Die Bekehrung von Paulus und seine Ausbildung zum Weltapostel
Dieses kostbare Leben begann nicht in Palästina, sondern in der griechischen Stadt Tarsus in Cilicien, in der Saulus mit dem Beinamen Paulus als Sohn eines Diasporajuden, der Zelttuchmacher war, das römische Bürgerrecht besaß und zur Sekte der Pharisäer gehörte, in den ersten Jahren unserer Zeitrechnung das Licht der Welt erblickte.
Wie kam es, dass dieser Pharisäersohn aus der jüdischen Diaspora nicht nur ein Jünger Jesu von Nazareth, sondern sein Hauptverkünder im römischen Reich, der Weltapostel wurde? Man darf die Schwierigkeit einer allseitig befriedigenden Beantwortung dieser Frage nicht verkennen. Wer sich aber durch die Spärlichkeit der Quellen zur Aufstellung frei erfundener "interessanter" Hypothesen verleiten lässt, mag sich und Gleichgesinnten eine Freude bereiten; eine wirkliche Lösung des Problems ist nur im engen Anschluß an das vorhandene Quellenmaterial zu erzielen.
Dieses setzt voraus, dass Paulus nach Jerusalem kam, sagt aber nichts weder über den Zeitpunkt seiner Ankunft in der heiligen Stadt, noch über den Zweck, der ihn dahin führte. Sicher ist, dass er erst nach der Kreuzigung Jesu dorthin kam; denn aus seinen Briefen ist ersichtlich, dass er Jesus von Angesicht nicht kannte. Vielleicht war es die Kunde von der an den Namen des Nazareners sich anschließenden Bewegung, die den feurigen Jüngling zur Reise nach Jerusalem veranlasste; sie erklärt sich indes zur Genüge aus seiner Eigenschaft als Pharisäersohn, die seine Erziehung im pharisäischen Gesetz und deren Vollendung in der Hochburg des Pharisäertums nahelegte. Wenn daher die Apostelgeschichte ihn zu Beginn seiner Rede vor den Einwohnern Jerusalems anläßlich seines letzten Aufenthaltes sagen lässt, er sei "zu den Füßen des Pharisäers Gamaliel gesessen und nach der Strenge des väterlichen Gesetzes unterrichtet worden" (22,3), so liegt nicht der geringste Grund vor, ihre Glaubwürdigkeit anzuzweifeln.
In Jerusalem war er als Widersacher der Christusgläubigen bereits bekannt, als der Diakon Stephanus auftrat. Bei diesem Anlaß nennt ihn die Apostelgeschichte zum erstenmal als den jungen Mann namens Saul, zu dessen Füßen die Zeugen, die Stephanus steinigten, ihre Kleider zur Bewachung niederlegten, und der an dessen Ermordung Gefallen hatte (7, 57). An der sich anschließenden Verfolgung nahm er nach derselben Quelle einen intensiven Anteil, indem er die Gemeinde verwüstete, in die einzelnen Häuser eindrang, Männer und Frauen fortschleppte und ins Gefängnis lieferte (8, 3). Diese Nachrichten werden durch die Selbstangabe von Paulus vollauf bestätigt. "Ich bin der geringste unter den Aposteln, ja ich bin nicht würdig, Apostel zu werden; denn ich habe die Kirche Gottes verfolgt," so äußert er sich im ersten Brief an die Korinther (15, 9). Noch bestimmter ist sein Selbstzeugnis in dem Galaterbrief: "Ihr habt doch gehört von meinem früheren Wandel im Judentum, wie ich die Kirche Gottes über alles Maß verfolgte und verwüstete, und wie ich im Judentum viele Altersgenossen in meinem Stamme übertraf als ein übertriebener Eiferer für die Überlieferungen meiner Väter" (1, 13 f.). In seiner Verfolgungswut erbat er sich sogar vom Hohenpriester Schreiben an die Synagogen in der fernen Stadt Damaskus zu dem Zwecke, Anhänger der neuen Lehre, falls sie dort vorhanden wären, Männer und Frauen, gefesselt nach Jerusalem zu bringen. Auf dem Weg nach Damaskus trat dann das Ereignis ein, das seinem Leben eine ganz andere Richtung geben sollte, die Erscheinung Jesu, die den Verfolger umwandelte in das auserwählte Gefäß, seinen Namen zu tragen vor Heiden, Könige und Söhne Israels (9, 15).
Die Apostelgeschichte schildert den Vorgang an drei Stellen (9, 3-18; 22, 3-16; 26, 12-30), die wesentlich miteinander übereinstimmten. An der zweiten und dritten legt sie den Bericht Paulus selbst in den Mund. Wer sie unbefangen liest, empfängt den Eindruck, dass die Erzählung beide Male in den Zusammenhang vorzüglich passt und durch die Umstände innerlich motiviert ist. In den Paulusbriefen ist davon keine Rede: ein Schweigen, das gegen die Apostelgeschichte mehr als einmal ausgespielt wurde. Sehr zu Unrecht! Wer beachtet, dass diese Briefe an Kirchen und Einzelpersonen gerichtet sind, die Paulus persönlich kannten oder wenigstens über ihn unterrichtet waren (letzteres gilt nur für den Römer- und Kolosserbrief), wer aus ihrem Wortlaut den Anlaß, Inhalt und Zweck eines jeden erkannt hat, der gewinnt die Überzeugung, dass nicht das Schweigen über das Damaskuserlebnis in ihnen anstößig ist, sondern im Gegenteil seine Erwähnung in Gestalt einer ausführlichen Erzählung in höchstem Maße Anstoß erregen, ja sogar ihre Echtheit in Frage stellen müßte, weil in keinem von ihnen, so wie sie vorliegen, ein solcher Bericht irgendwie gerechtfertigt wäre.
Ihr Schweigen ist übrigens nicht vollständig. In zwei Briefen finden sich Anspielungen darauf, die so deutlich sind, dass sie einer Bestätigung der Berichte in der Apostelgeschichte gleichkommen. Als solche darf ohne Zweifel die Stelle des Galaterbriefes gewertet werden, an der Paulus von Gott, der ihn vom Mutterschoße an ausgesondert und durch seine Gnade berufen habe, aussagt, es habe ihm gefallen, "seinen Sohn an mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heidenvölkern verkünde" (1, 15 f.), wegen ihrer nahen Berührung mit der vorhin zitierten Stelle im ersten Bericht der Apostelgeschichte von dem auserwählten Gefäß, Jesu Namen zu tragen vor die Heiden usw. Noch deutlicher ist die Anspielung im ersten Korintherbrief, in dem Paulus die Aufzählung der Erscheinungen des Auferstandenen mit den Worten beschließt: "Zuletzt aber erschien er auch mir wie der Fehlgeburt" (15, 8); denn die vorher aufgeführten Erscheinungen waren sinnlich sichtbar. Er kann auch kaum zweifelhaft sein, dass Paulus an den zahlreichen Stellen, wo er von der unverdienten Gnade spricht, die ihm Gott verliehen habe, in erster Linie auf das Damaskuserlebnis zurückblickt. Es darf sogar ein direktes Selbstzeugnis in dem emphatischen Ausruf des Apostels an einer anderen Stelle des ersten Korintherbriefes erblickt werden: "Habe ich nicht unsern Herrn Jesus Christus gesehen?" (9, 1); denn es steht fest, dass er ihn während seines irdischen Lebenswandels nicht gesehen hat! Es kann daher nicht in Abrede gestellt werden: Nicht bloß die Apostelgeschichte, sondern Paulus selbst betrachtete die ihm gewordene Erscheinung Jesu als eine göttliche Wundertat. Trotz dieser Übereinstimmung der einzigen Quellen, denen mir die Kenntnis des ausschlaggebenden Ereignisses im Leben des Weltapostels verdanken, hat die moderne Wunderscheu ihr den Charakter einer übernatürlichen Gottestat abgesprochen. Die Zeiten, in denen man den Bericht der Apostelgeschichte dem aufgeklärten Menschen durch oberflächliche rationalistische Interpretationen mundgerecht zu machen suchte, sind vorbei. Die naturalistische Exegese ersetzt diese Künsteleien, die uns heute lächerlich erscheinen, durch den Versuch, das Wunder in einen natürlichen, innerpsychologischen Vorgang zu verwandeln, zu dessen Erklärung bald ein nervöser Krankheitszustand, bald eine ekstatische Veranlagung bei Paulus angenommen wird, die sich in den Gesichten und Offenbarungen zeige, die er auch später erlebte (2. Kor. 12, 1 f.).
Dieser Versuch wäre aber nur dann ernst zu nehmen, wenn es gelänge, die psychologischen Mittelglieder zwischen dem "Wut und Mord schnaubenden" Verfolger, der nach Damaskus auszieht, und dem blinden und entkräfteten Mann, der in Damaskus ankommt, nachzuweisen. Zu diesem Zweck wurde die Behauptung aufgestellt, Paulus habe schon vor dem Tag von Damskus Zweifel an dem Gesetz und seiner rechtfertigenden Kraft gehegt, die an diesem Tag mit überwältigender Macht auf ihn einstürmten und die Vision verursachten. Diese Behauptung hat aber keinen Anhaltspunkt in den Quellen und stützt sich rein auf psychologische Erwägungen, die in analogen Fällen von plötzlicher Gesinnungsänderung zutreffen mögen, von denen aber nicht bewiesen werden kann, dass sie bei Paulus zutrafen. Sie steht nicht nur in Widerspruch mit seinem Selbstzeugnis, sie mutet Paulus sogar eine Unwahrhaftigkeit zu. Die zwei Stellen im Galaterbrief, von denen die eine an seinen übertriebenen Eifer für die Überlieferungen seiner Väter erinnert, die andere von der ihm gewordenen Offenbarung des Sohnes Gottes spricht, folgen nämlich so unmittelbar aufeinander, dass die Annahme eines Mittelgliedes für die Leser des Briefes ganz und gar ausgeschlossen war. Ein solches Mittelglied wäre aber vorhanden gewesen, wenn Paulus jene Zweifel am Gesetz gehabt hätte!
Die naturalistische Erklärung des Damaskuserlebnisses ist auch an und für sich betrachtet ganz ungenügend, um den hervorstechendsten Charakterzug des Weltapostels verständlich zu machen: die trotz aller Anfeindung mit eiserner Konsequenz und Energie festgehaltene, durch keinerlei Gefahren und Beschwerden zu erschütternde, von keiner Spur innerer Unsicherheit getrübte Richtung seiner langjährigen Missionstätigkeit auf die Heidenwelt und die Befreiung des Evangeliums von dem Joch des jüdischen Gesetzes. Wer daher aus philosophischen Voraussetzungen und Scheingründen die Paulus gewordene göttliche Gnade und Berufung in Abrede stellt, verschließt sich die Einsicht in die innerste und Wirksamste Quelle, aus der Paulus seine ungebeugte und unbeugsamste Kraft schöpfte, und begnügt sich mit unzulänglichen Hypothesen. Ein solches Vorgehen verdient nur eine Zensur: Es ist unwissenschaftlich!
Die Apostelgeschichte gibt eine ziemlich ausführliche Schilderung der Vorgänge nach der Erscheinung (9, 8-25). Mit der Bemerkung, dass Paulus drei Tage lang nicht aß noch trank, deutet sie auch den gewaltigen inneren Kampf an, der seiner Taufe durch den Jünger Ananias vorausging. Gleich nach der Taufe fing er an, Jesus als den Sohn Gottes in den Synagogen zu verkünden. Nach dem Aufenthalt in Arabien, den Paulus selbst erwähnt (Gal. 1, 17), und der eine fühlbare Lücke in der Apostelgeschichte ausfüllt, setzte er seine Predigt in Damaskus fort, bis ein Mordanschlag der Juden ihn zwang, auf ungewöhnlichem Wege die Stadt nach drei Jahren zu verlassen. Über seine Erlebnisse bei seiner Rückkehr nach Jerusalem geht er mit seinem Takt hinweg und begnügt sich mit der Angabe, dass er außer Petrus und dem Herrnbruder Jakobus keinen der anderen Aposteln gesehen habe (1, 18 f.). Was die Apostelgeschichte darüber berichtet (9, 26-30), verdient vollen Glauben. Dass der grimmige Verfolger mit großem Misstrauen in Jerusalem empfangen wurde und die Gemeinde nicht glauben konnte, dass er ein Jünger Jesu geworden sei, ist einzig natürlich und wahrlich keine Erfindung der späteren Zeit. Dass Barnabas als der erste sich von diesem Vorurteil frei machte, erklärt sich aus seiner Eigenschaft als Diasporajude und stellt zugleich seine persönlichen Vorzüge in ein helles Licht. Dass Paulus infolge durch das Eintreten des Barnabas herbeigeführten Stimmungsumschlags in der Urgemeinde als Prediger auftreten konnte, unterliegt auch keinem Bedenken. Wie in Damaskus wurde auch in Jerusalem ein Mordanschlag gegen ihn geplant: Die Beliebtheit dieses radikalen Mittels, sich lästiger Gegner zu entledigen, zu allen Zeiten und bei allen Völkern bedarf keines Beweises! Als Urheber des Anschlages nennt die Apostelgeschichte "Hellenisten", d.h. aus der Diaspora stemmende und darum griechisch redende Juden, mit denen er sich auseinandergesetzt hatte. Auch dieser Einzelzug ist glaubwürdig: Da Paulus selbst auch aus der Diaspora stammte, lag eine Auseinandersetzung zwischen ihm und den "Hellenisten" sehr nahe. Die Jünger, d.h. die Urgemeinde, vereitelten den Anschlag, indem sie Paulus nach Cäsarea hinabbrachten und nach Tarsus entließen. Sie werden es in ihrer Mehrzahl ohne besondere Trauer getan haben. Einer unter ihnen vergaß ihn aber nicht. Wie Barnabas ein zweites Mal in sein Lebensschicksal eingriff und ihm die Laufbahn eröffnete, die ihn den Großen der Weltgeschichte zugesellen sollte.
Die stille Zurückgezogenheit, in der Paulus etwa vier Jahre (38/39-41/42) in seiner Vaterstadt verbrachte, scheint auf den ersten Blick eine unwillkommene Ruhepause in seinem Lebensgang gewesen zu sein. In Wirklichkeit war sie das wichtigste Stadium in seiner Ausbildung zum Weltapostel; denn in dieser Zeit fiel die begriffliche und sprachliche Prägung der religiösen Gedanken, von denen seine Verkündigung des Evangeliums von der Missionsarbeit in Antiochien an sich beherrscht zeigte, und die das Wesen des paulinischen Heidenchristentums bestimmten.
Die Faktoren und Grundgedanken seiner Theologie
Die aus den Briefen des Weltapostels gewonnenen und in systematische Ordnung gebrachten religiösen Gedanken werden gemeinhin als die "Theologie des Apostels Paulus" bezeichnet. Mit Recht! Denn seine Missionspredigt bestand nicht mehr wie die der Urapostel und ihrer Gehilfen aus der einfachen "Verkündigung Jesu", seines Lebens und Wirkens, seines Todes und seiner Auferstehung, in inniger Verbindung mit seiner Lehre. Sie umfasste bereits Sätze, die auf seiner persönlichen geistigen Arbeit über das Evangelium in sich und in seinem Verhältnis zum jüdischen Gesetz beruhten und Schlussfolgerungen enthielten, die er aus der Lehre Jesu zum Zwecke ihrer Erläuterung und zur Widerlegung falscher Auffassungen zu ziehen und zu formulieren veranlasst wurde. Aus dieser geistigen Arbeit, bei der Paulus sich von dem Geiste Jesu geleitet wusste, ging die erste christliche Theologie hervor. Sie entstand somit nicht aus fremden, in das Evangelium hineingetragenen intellektualistischen Interessen; sie wuchs vielmehr aus den inneren Bedürfnissen seiner erfolgreichen Verkündigung selbst heraus.
Für die nähere Kenntnis der Theologie des Weltapostels muss auf die ihr gewidmeten Untersuchungen verwiesen werden; denn der bescheidenste Versuch, sie hier zur Darstellung zu bringen, würde den zur Verfügung stehenden Raum weit überschreiten. Eines lässt sich aber nicht übergehen, nämlich die Feststellung der Faktoren, von denen sie ihre Eigenart erhielt, und die Herausstellung der charakteristischen Gedanken, die ihr zugrunde liegen.
Der erste und wirksamste dieser Faktoren war das Damaskuserlebnis, die Paulus gewordene Offenbarung Jesu Christi, des Sohnes Gottes, deren entscheidende Bedeutung ohne weiteres einleuchtet. Auf diesen Faktor weist Paulus ausdrücklich hin in dem Schreiben an die Galater: "Ich tue euch kund in betreff des Evangeliums, das von mir verkündet wurde, dass es nicht Menschenwerk ist; denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi" (1, 11 f.). Diese Offenbarung unter der nach dem Zusammenhang nur das Damaskuserlebnis verstanden werden kann, erschloß ihm ein neues Verständnis der Schriften des Alten Testamentes. Auf ihr beruhen die neuen Erkenntnisse, die seine Missionspredigt von der Frohbotschaft der Urapostel unterscheidet. Sie war die Quelle seines persönlichen Christusglaubens.
Der zweite Faktor war die beständige Betrachtung des Lebens und der Lehre Jesu, wie sie in der Urkirche von Anfang an gepredigt worden war. Er trat hinter dem ersten zurück, war aber nichtsdestoweniger von wesenhafter Bedeutung; denn für die Erfüllung seiner Aufgabe musste Paulus die realen Vorgänge des Lebens Jesu von seiner Geburt bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung sowie den Inhalt seiner Lehre ebenso genau kennen wie die Urapostel und die aus der Urgemeinde stammenden ersten Heidenmissionare in Antiochien. Da er nicht zu den persönlichen Jüngern Jesu gehört und zu der Urgemeinde in denkbar schärfstem Gegensatz gestanden hatte, hat es keine Wahrscheinlichkeit für sich, dass er diese Kenntnis schon vor dem Damskustag besaß. Die soeben zitierte Stelle im Galaterbrief scheint auf den ersten Blick auszusagen, dass er sie von Jesus selbst auf dem Wege der Offenbarung erhielt. Der Ausdruck "Evangelium" bedeutet aber an dieser Stelle nicht die Verkündigung des Lebens und der Lehre Jesu in ihrem vollen Umfang, sondern nur den Punkt, der die Missionspredigt von Paulus charakterisiert: die Freiheit der Heidenchristen von dem mosaischen Gesetz. Denn in dem ganzen Brief ist nur davon die Rede, und eine Abwendung der Galater von der Frohbotschaft als solcher kam gar nicht in Frage. Paulus deutet selbst einen andern Weg an durch die sich anschließende Mitteilung an die Galater, dass er nicht sogleich nach der Erscheinung Jesu sich mit Fleisch und Blut, d.h. mit Menschen, beraten habe, sondern erst nach drei Jahren von Damaskus nach Jerusalem gezogen sei, um Kephas, d.h. Petrus, kennenzulernen und zu befragen (der griechische Ausdruck, dessen er sich bedient, schließt beides ein), und fünfzehn Tage bei ihm geblieben sei. Es liegt auf der Hand, dass der Hauptgegenstand seiner Unterredungen mit Petrus, die einen halben Monat andauerten, kein anderer gewesen sein kann als das Leben und die Lehre, der Tod und die Auferstehung Jesu von Nazareth. Die persönlichen Verhältnisse der beiden Zwiesprecher, des Hauptjüngers Jesu und Führers der Urkirche und seines einstigen Hauptverfolgers, der nichts sehnlicher wünschen konnte, als eine authentische Auskunft über den Gekreuzigten und Auferstandenen zu erhalten, stellen das außer Zweifel. Nähere Angaben über diese Unterredungen sind in den Paulusbriefen weder zu finden noch überhaupt zu erwarten. Spuren davon sind an zwei Stellen des ersten Korintherbriefes sichtbar. Die eine beginnt mit den Worten: "Ich habe euch vor allem überliefert, was ich auch überkommen habe, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist gemäß den Schriften, und dass er begraben wurde und auferweckt wurde am dritten Tage den Schriften gemäß, und dass er dem Kephas erschien," usw. (15, 3 ff.). Die andere lautet ganz ähnlich: "Ich habe vom Herrn her überkommen, was ich euch auch überliefert habe, dass der Herr Jesus in der Nacht, in der er verraten wurde, Brot nahm," usw. (11, 23). Was liegt da näher als die Annahme, dass Petrus es war, von dem Paulus diese wichtigen Mitteilungen bekam.
Zu den zwei wesentlichen Faktoren der Theologie des Weltapostels trat als dritter das Erbe seiner Väter, sein religiöses Leben im Judentum und seine pharisäische Bildung hinzu, sowohl in fachlicher als in formaler Hinsicht. Paulus deutet auch diesen Faktor an, wenn er die Galater an seinen einstigen Wandel im Judentum und seinen übertriebenen Eifer für die Satzungen seiner Väter erinnert (1, 13). Nachwirkungen aus der Zeit vor seiner Bekehrung mussten sich mit psychologischer Notwendigkeit geltend machen: Das erforderte die Kontinuität seines Geisteslebens in gleicher Weise, wie wir es bei späteren Männern beobachten können, die im Besitz einer reichen Geisteskultur waren, als sie zum Christentum übertraten. Sachlich treten diese Nachwirkungen in den Paulusbriefen dort in die Erscheinung, wo das Alte mit dem Neuen nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz stand, vor allem durch das Festhalten an den Dogmen und den theologischen Spekulationen des Spätjudentums. Formal erstreckte sich der Einfluss seiner pharisäischen Bildung auch auf die begriffliche Fassung, die stilistische Darstellung und die dialektische Verteidigung des Neuen, wie das aus den Briefen an die Galater und die Römer besonders klar zu ersehen ist.
Von einem vierten Faktor ist in der Gegenwart viel die Rede, nämlich von dem Einfluss, den die heidnischen Mysterienreligionen und die hellenistische Mystik auf die paulinische Theologie ausgeübt haben sollen. Hier muss ein Zweifaches genau unterschieden werden. Es versteht sich von selbst, dass Paulus, der in einer griechischen Stadt geboren und in einer von hellenistischer Kultur durchtränkten Umgebung aufgewachsen war, die Religiosität der Welt, in die er das Evangelium hineintrug, aus eigener Erfahrung kannte, an ihre religiösen Vorstellungen und Bedürfnisse anknüpfte, ja sogar veranlasst wurde, die ihm geeignet erscheinenden religiösen Ausdrücke und Formeln sich anzueignen. Er hat es in seiner Lebenspraxis sicher viel mehr getan, als es aus seinen Briefen zu ersehen ist. Er tat es, weil er sich Griechen und Barbaren, Weisen und Unweisen verpflichtet fühlte (Röm. 1, 14). Zu dieser Akkommodationsmethode hat er sich offen bekannt, als er an die Korinther schrieb: "Ich habe mich allen zum Knecht gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, um die Juden zu gewinnen; ...denen, die ohne Gesetz sind, als wäre ich ein Gesetzloser, obschon ich nicht von Gottes Gesetz los, sondern Christi Gesetz verhaftet bin, um die Gesetzlosen zu gewinnen...Allen bin ich alles geworden, um allerwegen etliche zu retten" (1. Kor. 9, 19 ff.).
In diesem eingeschränkten Sinne kann von einem vierten Faktor der Theologie von Paulus gesprochen werden. Unrichtig ist aber die Behauptung, dass er sachlich unter die Abhängigkeit von der hellenistischen Religiosität und Mystik geraten ist. Nicht er ist ihnen dienstbar geworden, sondern er hat sie sich dienstbar gemacht. Das beweist die souveräne Art, mit welcher er die Torheit des Kreuzes der Weisheit der Griechen zu Beginn des ersten Korintherbriefes (1, 17-2, 16) gegenüberstellt. Das zeigt sich besonders darin, dass die Ausdrücke und Formeln, die er aus dem religiösen Wortschatz des Hellenismus herübernahm, bei ihm eine ganz andere Bedeutung und einen neuen Inhalt haben. Wer von den religiösen und sittlichen Zuständen in der Heidenwelt eine Auffassung hatte, wie sie Paulus im Römerbrief aussprach (1, 18-32), war sicher nicht bereit, in ihre Schule zu gehen. Wir kennen einen Juden, der sein Zeitgenosse war, und der die Hellenisierung des Judentums versuchte, Philo von Alexandrien. Wäre Paulus unter ähnliche Einflüsse geraten, so müsste seine Theologie der philonischen irgendwie verwandt sein. Nun ist sie aber himmelweit davon verschieden!
Ihre charakteristischen Grundgedanken lassen sich auf folgende Punkte zurückführen:
1. Die innere Berechtigung und gebieterische Notwendigkeit der Loslösung des Evangeliums von dem mosaischen Gesetz.
2. Der wesenhafte Charakter des Evangeliums als Erlösungs-, nicht Gesetzesreligion.
3. Die Allgemeinheit der menschlichen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit infolge der Erbsünde von Adam, dem ersten Menschen, her.
4. Die Ohnmacht des jüdischen Gesetzes, den Sünder zu rechtfertigen.
5. Die objektive Erlösung der sündigen Menschheit durch Jesus Christus, den im Fleische erschienenen Sohn Gottes, näherhin durch seinen Tod und seine Auferstehung.
6. Die subjektive Rechtfertigung der Einzelmenschen durch den Glauben an ihn, nicht durch die Gesetzeswerke.
7. Die zentrale Stellung der durch Jesus Christus den Menschen erworbenen Gnade Gottes als Prinzip des neuen religiösen Lebens der Christengemeinden.
8. Die Verpflichtung eines jeden Einzelchristen zu einem heiligen Lebenswandel durch Werke der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten.
Diese inhaltschweren Gedankengänge stellen samt ihrer Begründung und allseitigen Erläuterung das wesentliche Resultat der Arbeit dar, die sich im Geiste des Paulus durch das Zusammen- und Ineinanderwirken der besprochenen Faktoren vollzogen hatte, als er in Antiochien seine Laufbahn als Weltapostel antrat. Es versteht sich von selbst, dass seine religiöse Gedankenwelt sich im Laufe seiner Lebensarbeit erweiterte und vertiefte, nicht zuletzt infolge der Anfeindung seines Lebenswerkes durch extreme Kreise der judenchristlichen Urkirche, die bis zu seinem Lebensende andauerte und seine Missionstätigkeit zu einem der schwierigsten und schmerzlichsten Unternehmen in der ganzen Religionsgeschichte gestaltete.
( entnommen aus: Urkirche und Frühkatholizismus, von Albert Ehrhard, Imprimatur Coloniae, die 19. Septembris 1935)