- Gottes enge Pforte -

Die menschliche Seele

 
 
 
"O Schönheit der Naturen,
O Wunderlieblichkeit,
O Zahl der Kreaturen,
Wie streckest dich so weit!
Wer wollte denn nicht merken
Des Schöpfers Herrlichkeit
In allen seinen Werken
So voller Zierlichkeit!
O Mensch, ermiß im Herzen dein:
Wie herrlich muß der Schöpfer sein."
 
 
Es ist etwas im Menschen, was noch viel wertvoller ist, als der - wenn auch noch so kunstreich gefügte, wunderbare menschliche Leib: es ist die menschliche Seele, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes. - O meine Seele, was ist das für ein vortreffliches und gar hohes Wort: du bist geschaffen nach dem Ebenbild Gottes! Versenke dich, so weit die menschliche Schwachheit es vermag, in dieses gnadenreiche Wort und betrachte, was es heissen will: die Seele ist ein Ebenbild Gottes.
  
 
Gott ist ein Geist, d.h. ein seiner selbst bewusstes, unsichtbares Wesen, voll Kraft und innern Lebens. Dieser Gottesgeist durchweht die ganze Schöpfung, und gibt Allem, was da atmet und lebt, Odem und Lebenskraft - so zwar, dass Alles, was jetzt in tausenderlei Gestalt des Daseins sich freut, in Tod sich auflösen und ins Nichts zusammensinken müsste, sobald dieser allbelebende Gottesgeist sich daraus zurückzöge. - Auch die menschliche Seele ist ein Geist, der nicht nur sein eigenes, inneres, reichgestaltetes Leben besitzt, sondern gleichfalls eine kleine Welt durchweht und belebt, nämlich den menschlichen Körper, so zwar, dass dieser Körper mit allen seinen Gliedern und Tätigkeiten sogleich in Tod und Erstarrung versinkt, wenn die Seele von ihm scheidet.
Während Alles in der sichtbaren Schöpfung aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist und darum sich in seine Teile wieder auflösen und sterben kann, ist Gottes Geist einfach in seiner Wesenheit, d.h. ohne alle Zusammensetzung, und darum unsterblich und ewig. - So bist auch du, o menschliche Seele, ein einfaches Wesen, das niemals zerteilt oder getrennt werden, also niemals sterben kann, sondern für ein Leben ohne Ende, d.h. für eine Ewigkeit bestimmt ist.
Der Schöpfer des Weltalls ist unendlich glückselig, und seine Seligkeit kann durch keine Wechselfälle getrübt oder Ihm geraubt werden. - Und du, o Seele, bist nicht auch du eben dazu geschaffen, an dieser unaussprechlichen Glückseligkeit deines Schöpfers Anteil zu nehmen? So lange du zwar hier, in diesem Körper des Todes, pilgerst, mag viel Widerwärtiges dir begegnen; bist du aber recht innig - in festem Glauben und treuer Kindesliebe - mit Gott verbunden, so vermögen alle diese Widerwärtigkeiten den inneren Frieden und die Glückseligkeit in Gott dir nicht zu rauben, und jedenfalls ist dir, wenn du die Kämpfe dieses irdischen Lebens siegreich bestanden hast, eine Seligkeit bereitet, die in Ewigkeit nicht mehr von dir genommen wird.
Der Stein und die Pflanze, sie wissen nichts von sich selbst und von der Natur, in welcher sie existieren; auch das Tier hat nur dunkle Ahnung und unklare Vorstellungen. Der ewige Geist aber, der all das erschaffen, der erkennt in absoluter Klarheit sich selbst und Alles was Er erschaffen hat, sowie alle Beziehungen und Verhältnisse der Geschöpfe untereinander und zu ihrem Schöpfer. Was geschehen ist vor Jahrtausenden, und was geschehen wird in Zeit und Ewigkeit - ja sogar, was niemals war und niemals sein wird, sondern bloß möglich ist, das schaut Er, als läge es vollendet vor seinem göttlichen Auge. - Wohlan denn, o menschliche Seele, auch hierin bist du ein Ebenbild deines Gottes! Erkenntniskraft hat Er auch in dich gelegt, so dass du klare Vorstellungen von leiblichen und geistigen Dingen, Begriffe und Urteile zu bilden, und wenn auch nicht Alles, so doch Vieles von dem was in dir und was über dir ist, zu erkennen vermagst. Ja sogar, was die Zukunft bringen wird, kann der vielerfahrene, kluge Mensch bisweilen erraten oder berechnen. Und damit die Vorstellungen, Anschauungen und Erkenntnisse, die du in früheren Zeiten dir erworben hast, nicht etwa spurlos und unbenützt vorübergehen, hat der Schöpfer dir eine Kraft verliehen, das Alles in deinem Geiste, wie in einer unsichtbaren Vorratskammer, aufzubewahren: die Gedächtniskraft. Selbst Dinge und Verhältnisse, die niemals wirklich, sondern bloß möglich sind, kann der menschliche Geist sich vorstellen und zu reichgestalteten, prachtvollen Gebilden sich ausmalen: dazu empfing er die Einbildungskraft oder Phantasie.
Doch wie die Allwissenheit Gottes, nach menschlicher Auffassung, noch nicht die preiswürdigste unter seinen Eigenschaften ist, so kann auch unser Wissen und Erkennen noch nicht die Höchste unter den natürlichen Begabungen der menschlichen Seele genannt werden. Gott ist die Liebe: Damit haben wir das Höchste und Süsseste von Gott gesagt! Wie Gott sich selbst, als den Inbegriff aller Vollkommenheiten, in schrankenloser Liebe liebt, so umfasst Er auch die Menschen und alles Edle, Grosse, Schöne und wahrhaft Gute in der Menschenwelt mit unendlicher Liebe. Am Vaterherzen Gottes liegt die ganze Menschheit, wie das Kind an der Brust seiner Mutter. Durch diese Liebe tritt der Schöpfer in die innigste Beziehung zu seinem Geschöpfe, und bildet jenes wunderbare, unaussprechlich süsse Band, das den Himmel und die Erde aneinander kettet. - 
 
Und die menschliche Seele? Auch sie, ein Ebenbild Gottes, besitzt die Kraft der Liebe. Denn damit, dass du die Güter des Lebens besitzest, fühlst du dich noch lange nicht befriedigt: dein Herz ist offen für alle Mitmenschen. In zärtlichem Mitleiden fühlest du ihre Schmerzen und wünschest mit aller Kraft, dass auch ihnen zu Glück und Lebenslust geholfen werde. In herzlicher Freundschaft schliessest du mit andern Menschen unzertrennliche Bündnisse, und musst dich freuen und aufjubeln über alles Schöne, Gute und Edle in der Menschheit. Insonderheit aber öffnet sich dein Herz dem himmlischen Vater. Liegt auch eine unendliche Kluft zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpfe: durch die flammende Liebe, mit der du dich zu Gott hinüberneigest, überbrückest du diese Kluft; denn unruhig fühlest du dich und friedlos, bis du Ruhe gefunden hast in der Liebe deines Gottes. - So geht denn auch von der menschlichen Seele, durch die Liebe, ein wunderbares heiliges Band aus, das Gott und die gesammte Menschheit umspannt, und das, was sonst getrennt und vereinsammt leben würde, zur innigsten Einheit verbindet!
  
Endlich beten wir in Gott, nebst seiner Allwissenheit und Vaterliebe, auch die Allmacht seines freien Willens an. Gott will - und was Er will, das geschieht und besteht. Keine Macht kann Ihn zwingen. In schrankenloser Freiheit beschliesst der Ewige, und was Er beschlossen hat, das vollführt Er in unwiderstehlicher Kraft. Himmel und Erde beugen sich vor seinem allmächtigen Willen, und vor erhabensten Cherub bis herab zum Würmlein, das sich auf dem Blatte wiegt, muss jedes Geschöpf seinen Ratschlüssen sich unterwerfen. - Und sieh, voll Huld und Gnade hat der Schöpfer es gefügt, dass auch der Mensch an der Allmacht und Freiheit seines Willens Anteil nehme, und auch so als Gottes Ebenbild sich erweise. Denn auch dir, o Seele, gab Er den freien Willen, wonach du gewissenmassen der eigene Herr deiner Geschicke bist, und freie Wahl hast in deinen Entschließungen. Tausenderlei Möglichkeiten stellen sich deinem Geiste vor: in Freiheit ergreifest du diese oder jene. Tausenderlei Lebenswege öffnen sich vor dir: in Freiheit schlägst du diesen oder jenen ein. Und wie Vieles vermag die Kraft des freien Willens! Die wildesten Tiere weiss der Mensch zu bändigen. Alle Elemente macht er sich dienstbar. Überflutende Ströme dämmt er in ein festgemauertes Flussbett, und hoch über die schäumende Flut baut er Brücken, von denen herab er der Ohnmacht des gefesselten Elementes spottet. Schwimmende Häuser mit eisernen Wänden errichtet der Mensch, und furchtlos segelt er damit über die Abgründe des Ozeans. Die Berge öffnen ihre geheimsten Kammern vor dem Machtworte des Menschen, und ihre dunklen Höhlungen durchzieht er in eisernen Wagen mit Windesschnelle. Wie das Kind den Schmetterling mit der Schlinge, so fängt der Mensch den Blitzstrahl, der unstet die Lüfte durchzuckt, mit der Eisenspitze, und leitet ihn schadlos in die Tiefen der Erde. Ja selbst den toten Metall haucht er Leben ein, und macht es zum beflügelten Träger seiner Gedanken.
Erkennst du nun, o Seele, dass dein Schöpfer wahr gesprochen als Er ausrief: Lasset uns den Menschen machen nach unserm Ebenbild und Gleichnisse? Ähnlich dem Allerhöchsten bist auch du ein Geist, einfach in der Wesenheit, unsterblich, für die Ewigkeit und zwar für ein unaussprechliches Glück in der Ewigkeit bestimmt; und wie Gott trägst auch du Erkenntnis, Liebe und die Kraft des freien Willens in dir. - 
Aber Gott ist dreieinig, das heisst Eines in der Wesenheit und dreifach in den Personen. Der Vater erzeugt von Ewigkeit seinen eingebornen Sohn, und der Heilige Geist geht aus dem Vater und vom Sohne. Solltest du nun, o menschliche Seele, auch in dieser Beziehung ein Ebenbild Gottes dich nennen dürfen? - O das ist ein grosses GEheimnis, vor dem wir mit dieser Frage angelangt sind: in heiliger Ehrfurcht und grosser Demut wollen wir sie zu beantworten suchen. Ein berühmter Bischof, der grosse Bossuet sagt: "Das Bild der hochheiligen Dreifaltigkeit wirft einen prächtigen Segenschimmer oder Widerschein in die Seele des Menschen zurück: ähnlich dem ewigen Vater, hat sie das Sein und die Kraft; ähnlich dem ewigen Sohn hat sie die Erkenntnis; ähnlich dem ewigen Geiste hat sie die Liebe." Was will das heissen? 
Die ewigen Gotteskraft erzeugt in sich von Ewigkeit her unendliche Erkenntnis und Weisheit; aus jener ewigen Gotteskraft und dieser Erkenntnis und Weisheit zugleich strömt von Ewigkeit her unendliche Liebe. Jene ewig zeugende Gotteskraft ist der Vater; die von Ewigkeit her gezeugte Weisheit ist Gott der Sohn; und die von Ewigkeit aus der Gotteskraft und der Weisheit hervorgehende Liebe ist Gott der heilige Geist. - In ähnlicher Weise lebt in der menschlichen Seele die Geisteskraft, das heisst die Kraft des Gedankens und der Liebe. Aus dieser Geisteskraft werden fortwährend, im Laufe des menschlichen Lebens, zahlreiche Erkenntnisse geboren; aus der Geisteskraft aber und aus der gewonnenen Erkenntnis zugleich entströmt vielfache Liebe - Liebe zu Gott, zu den Geschöpfen und zu sich selbst. Jene Geisteskraft der menschlichen Seele nun ist ein Abbild Gottes des Vaters; die Summe aller gewonnenen Erkenntnis ist ein Abbild Gottes des Sohnes; und die Summe aller Liebe unseres Herzens ist ein Abbild Gottes des heiligen Geistes. Darum bekreuzigst du, zu Ehren des ewigen Vaters, deine Stirn als den vornehmlichen Sitz des Geisteskraft; zu Ehren des ewigen Sohnes den Mund als das vornehmliche Werkzeug, durch welches wir unsre Erkenntnisse mit dem Worte aussprechen; zu Ehren des heiligen Geistes das Herz, als den Sitz der Liebe.
(Auszug aus: LEBEN JESU, von L.C.Businger, 1873)
 

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