- Gottes enge Pforte -

Das römische Reich zur Zeit Christi

 

Ob der Betrachtung solch tiefer Versunkenheit des "Volkes Gottes", der Juden, muss dich ein Gefühl unaussprechlicher Dankbarkeit ergreifen gegen den Erlöser aus so furchtbarem Elende, gegen Jesus Christus. Dieses heilige Gefühl des Dankes wird sich aber noch steigern, wenn du die noch viel schauderhaftere Versunkenheit betrachtest, in welcher damals die Heidenvölker aller Weltteile schmachteten, namentlich die Römer, das mächtigste Volk auf Erden. - Unermessliche Länder waren diesem Volke unterworfen: ganz Italien, die Schweiz, Deutschland bis zur Donau, Ungarn, Frankreich, Spanien, Nordafrika, Ägypten, Griechenland, die Türkei, Kleinasien und die Länder bis zum Euphrat: alles war dem Szepter der römischen Kaiser unterworfen!

In der Mitte dieses unermesslichen Reiches erhob sich dessen stolze Hauptstadt, Rom, die Gebieterin des Erdkreises. Ums Jahr 753 vor Christus war diese Stadt von den zwei Brüdern Romulus und Remus erbaut, und eine zeitlang von Königen regiert worden. Bald vertrieb man die Könige, und setzte zwei, alljährlich zu wählende Bürgermeister oder Konsulen an ihre Stelle. Diese regierten dann auch fast bis auf die Zeiten Christi, wo Rom aus einer Republik ein Kaiserstaat wurde. Julius Cäsar nämlich, ein gar berühmter Feldherr, war ums Jahr 60 vor Christus Konsul, und 15 Jahre darauf, wegen seiner glänzenden Siege, Imperator auf Lebenszeit geworden. Allein schon im folgenden Jahre ward er von römischen Ratsherrn ermordet, und Oktavianus trat an seine Stelle. Dieser Oktavianus war in allen seinen Unternehmungen so glücklich, und erhob Rom zu solchem Glanze, dass der Rat und das Volk ihm feierlich die Kaiserkrone und den Namen Augustus, d.h. der Erhabene, gaben.

Als Kaiser war dieser Oktavianus Augustus fast allmächtig; er stellte den allgemeinen Weltfrieden wieder her, und regierte ein halbes Jahrhundert, nämlich bis zum Jahre 14 nach Christus. Unter ihm fand die allgemeine Volkszählung im ganzen Römerreiche statt (im Judenlande durch Quirinus), und unter ihm ward Christus geboren.

 

Unter ihm versank aber auch die heidnische Römerwelt in stets tiefere Gottlosigkeit. Denn alle Völker seines unermesslichen Reiches, mit Ausnahme der Juden, erkannten den einen wahren Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, nicht, sondern erwiesen den hinfälligen Geschöpfen, den Gestirnen des Himmels, dem Feuer, ja sogar sterblichen Menschen und vernunftlosen Tieren göttliche Ehre, und beteten tote Götzenbilder an. Ihr Gottesdienst bestand in törichten oder wollüstigen Gesängen, in wahnsinnigen Tänzen, in Frass und Völlerei und gräulicher Unzucht. In Rom fand dieser buntartig verschiedene Götzendienst der Heidenvölker seinen Mittelpunkt. Da stand ein Tempel, der "allen Gottheiten" gewidmet war, das Pantheon; in diesem Tempel waren bei 300 Götzenbilder, wie sie den verschiedenen Nationen angebetet wurden, aufgestellt, und ein Jegliches wurde nach Brauch und Sitte des betreffenden Volkes verehrt. Aber gerade dadurch versank Rom in den abscheulichsten Unglauben: die Gebildeten glaubten vor lauter Gottheiten an gar keine mehr!

Inzwischen ward das Volk, das seinen früheren Glauben an die Götter verloren hatte, von einem unheimlichen, namenlosen Grauen ergriffen; alle ahnten die Schrecknisse der Zukunft und die hereinbrechenden Strafgerichte, und im ängstlichen Betreben, diese Zukunft zu erforschen, verfielen sie nun dem finstersten Aberglauben; denn - "wo keine Götter mehr sind, regieren die Gespenster" - sagt ein berühmter Schriftsteller. Auf wahnsinnigste Weise suchte man das Gewissen zu beschwichtigen und die zukünftigen Dinge voraus zu erfahren - durch Zaubersprüche, Amulette und Talisman, durch Weissagungen aus den Eingeweiden ausgegrabener Leichen, verhungerter oder erwürgter Kinder, aus dem Fluge der Vögel oder aus dem Fressen der Hühner und durch tausenderlei ähnliche Torheiten. Zu allem dem half Satan durch verschiedene Blendwerke getreulich mit, bis die religiöse Verwirrung, der Unglaube und der Aberglaube in der Verehrung der Teufel ihren Gipfel gefunden hatten.

 

Damit verband sich notwendiger Weise die schauderhafteste Sittenlosigkeit. Lüge, Betrug, Diebstahl, Hartherzigkeit, Bestechlichkeit, Hochmut, Schwelgerei und alle Laster erreichten zu Rom ihren Höhepunkt, namentlich aber Grausamkeit und Unzucht. Die eheliche Treue ward in den Schriften der Dichter und bei den öffentlichen Theaterspielen wie in den Gesprächen des gemeinen Volkes als Torheit verlacht, und der Ehebruch als Gottheit verehrt. Das Eheweib war zur Sklavin herabgesunken, und konnte vom Manne, der ein anderes Werkzeug für seine augenblickliche Lust suchte, aus den nichtswürdigsten Gründen verstossen werden. Jene widernatürlichen Laster, um deretwillen Sodoma und Gomorrha vom Feuer des Himmels waren zerstört worden, galten als etwas ganz erlaubtes, und wurden ohne Scheu von den angesehensten Staatsmännern und Weltweisen getrieben. Tausende von unglücklichen Mädchen wurden in öffentlichen Anstalten grundsätzlich zur schnödesten Wollust erzogen. Ja, es gab in Rom sogar Tempel, in welchen sich die jungen Römerinnen ganz dem Dienste der Wollust opferten, und wo die Nächte in den schändlichsten Lastern zu Ehren gewisser Gottheiten zugebracht wurden!

War die Menschheit auf solche Weise zum Tiere herabgesunken, so sollte sie, durch blutdürstige Grausamkeit, auch noch zum wilden Tiere herabsinken. Dies zeigte sich insonderheit bei den blutigen Kampfspielen der Gladiatoren. Diese Fechter, entweder Verbrecher oder Sklaven oder auch berufsmässige und um Gold gedungene Kämpfer, stritten in den Amphitheatern unter sich oder mit wilden Tieren bis aufs Blut. Ganze Tage und Nächte hindurch sahen sie entarteten Römer diesen schauerlichen Spielen zu, wo Tausende von Menschen sich gegenseitig niedermetzelten und man oft im Blute waten konnte. Ehe der Wettkampf begann, zogen sie am Sitze, worauf der Kaiser thronte, vorbei und riefen: "Es grüssen dich, o Kaiser, die zum Tode gehn!" War dann der eine Teil schon zum Tode verwundet und das Blut in Strömen geflossen, da erhoben sich die vornehmen Römerinnen von ihren Sitzen, stampften mit den Füssen und schrien: "noch mehr, noch mehr Blut!" Und die Spiele mussten von neuem beginnen!

 

An der Spitze und als Tonangeber all dieser unaussprechlichen Schlechtigkeit erblicken wir die römischen Kaiser selbst, die Nachfolger des grossen Augustus, namentlich Tiberius, Caligula und Nero. Das waren so abscheuliche Menschen, als wären sie vom Satan leibhaft besessen! Das Leben der Bürger achteten sie für nichts, und die Hinrichtung ihrer Gegner suchten sie mit teuflischer Lust so langsam, schmerzhaft und fürchterlich zu machen als möglich. Ihre Freude war es, im Menschenblute sich zu baden, und einst rief Einer von ihnen aus: "O möchte doch das römische Volk nur einen Kopf haben, damit er mit einem Hiebe könnte abgehauen werden!" - Alle Sitten und Gesetze traten sie mit Füssen; mit den eigenen Schwestern lebten sie in Blutschande, und mit den vornehmsten römischen Frauen im Ehebruche. - Die besiegten Völker wurden durch Steuern und Abgaben bis aufs Blut ausgesogen, um die notwendigen Gelder für die kaiserlichen Torheiten zu liefern. Tiberius allein verprasste für seine Mahlzeiten über 100 Millionen Taler! Vom Luxus, der hierbei entfaltet wurde, können wir uns einen Begriff machen, wenn wir hören, dass einst bei einer einzigen römischen Mahlzeit 2000 Gerichte von verschiedenen Fischen und 7000 Gerichte von Vögeln der kostbaren Art aufgetragen wurden; auf der Haupttafel aber prangte eine ungeheure Schüssel, ganz angefüllt mit - Gehirnen von Pfauen und Fasanen, und mit Zungen der seltensten Singvögel! Dabei wurden die köstlichsten Weine in goldnen Geschirren getrunken, und die Zimmer waren so üppig mit Rosenblättern bestreut, dass man sich buchstäblich auf Rosen gelagert hatte.

 

 

Daneben das Bild der jammervollsten Armut - die Sklaven! Denn bei den Römern wie bei den Heiden überhaupt galt als Grundsatz, dass unter den Menschen die Einen zur Freiheit, die Andern zur Knechtschaft bestimmt seien, und dass die Letztern, die Sklaven, keinerlei Recht haben. Solcher unglücklichen Menschen, die teils als Sklaven geboren, teils als Kriegsgefangene zu Sklaven gemacht wurden, gab es in allen Städten des römischen Reiches Unzählige. Die einzige Stadt Athen zählte 20 000 Bürger und 200 000 Sklaven. Rom, das zur Zeit des Kaisers Augustus bei anderthalb Millionen Einwohner zählte, bestand zur Hälfte aus Sklaven, deren Lage oft schlechter war als die der Tiere. Man schaudert, wenn man liest, wie diese Unglücklichen behandelt wurden. Wegen der unbedeutendsten Kleinigkeit wurden sie mit Ruten gepeitscht oder ans Kreuz geschlagen. Die vornehme Römerin, die sich von ihrer Sklavin den Haarputz zurecht machen ließ, hielt inzwischen eine lange, spitze Nadel mit zierlichem Elfenbeingriff in der Hand, und so oft die Sklavin ihre Sache nicht genau nach der Laune ihrer Herrin machte, stach ihr diese mit der Nadel in Hand, Arm oder Gesicht, so dass das arme Geschöpf oft ganz mit Blut überronnen war, und doch keinen Seufzer ausstossen durfte. Ward ein Römer oder eine Römerin von ihrem erbitterten Sklaven ermordet, so mussten sämtliche Sklaven des Hauses, gleichviel ob schuldig oder unschuldig, am Kreuze büssen; denn für den Sklaven gab es keine Gerechtigkeit!

Freilich bestand auch zur Zeit dieser gräulichen Versunkenheit im heidnischen Rom eine Schule von sog. Weltweisen, die Stoiker, welche gar viel von Tugend, Sittlichkeit und Menschenwürde sprachen, und noch heutzutage von den Feinden des Christentums hoch gerühmt werden. Allein was war ihre Tugend? Nichts anders als eine (grösstenteils unwahre und erheuchelte) Erhabenheit über Schmerz und Freude, Furcht und Hoffnung, Hass und Liebe; eine stolze, Gleichgültigkeit gegen Glück und Unglück - mit welcher jedoch, nach der ausdrücklichen Lehre dieser Philosophen, die Ausübung widernatürlicher Unzucht und anderer abscheulicher Laster gar wohl vereinbar, und deshalb erlaubt war! Einen ebenso klaren als schauerlichen Beweis von der innern Haltlosigkeit der stoischen Tugend bietet uns der vielgerühmte Seneka. Allerdings hat dieser Philosoph sehr rühmliche und wohlklingende Aussprüche getan, und in seinem Tode (er starb als Selbstmörder) erblicken Manche einen Beweis von unerschütterlichem Mute und bewunderungswürdiger Charakterfestigkeit. Allein sie vergessen, dass derselbe Seneka seinem Schüler Nero alle Ausschweifungen und Wohllüste erlaubte; dass er sogar, in einem Schreiben an den römischen Senat, dessen Muttermord entschuldigte; dass er endlich die grossen Reichtümer, welche er durch Erpressungen zusammengerafft, dem Kaiser Nero anbot, wenn dieser ihm seine Huld wieder schenken, und das gegen ihn erlassene Todesurteil zurücknehmen wolle. Solche Bewandtnis hat es mit der damaligen heidnischen Tugend und Seelengrösse! - Der heidnische Schriftsteller Plutarch bezeugt: "In jeder Familie gibt es zahlreiche Beispiele von ermordeten Kindern, Müttern, Weibern; die Brudermorde sind zahllos, und es ist eine ausgemachte Wahrheit, dass, um seiner eigenen Sicherheit willen, ein König seinen Bruder umbringen muss." Von der Gewissenlosigkeit aber, mit welcher dazumal in Rom die Grundlage der Familie, die Ehe, behandelt und durch willkürliche Scheidung und Verstossung der Gattinnen geschändet wurde, gibt uns der heilige Hieronymus einen Begriff, wenn er von einem heidnischen Römer erzählt, der sein einundzwanzigstes Eheweib begrub, welch letztere zweiunszwanzig verschiedene Männer gehabt hatte!

Das waren die Zustände im Römerreiche und in der Heidenwelt überhaupt: die schwarze, undurchdringliche Nacht der Gottlosigkeit, der Sünde und des tiefsten Elendes hatte sich über den Erdkreis gelagert, und alle menschliche Kraft war gebrochen. Sieh, da geht auf die wunderbare Morgenröte einer neuen Zeit, einer Zeit himmlischer Gnade und göttlichen Erbarmens! Denn jetzt war herangebrochen:

"Die Fülle der Zeiten, wo Gott beschloss, seinen eingebornen Sohn in die Welt zu senden, damit Alles in Christo Jesu erneuert werde." (Gal. 4,4 und Ephes. 1,10)

 

Die Fülle der Zeiten

Denkwürdigster und alles entscheidender Zeitpunkt! Die menschliche Bosheit, so auch der göttlichen Gnade waren vollendet, und die Wege, wie zum völligen Untergange des Menschengeschlechtes, so auch zur Offenbarung des grössten Geheimnisses göttlicher Erbarmung waren bereitet. Nun konnte und nun musste die Entscheidung eintreten!

Die menschliche Bosheit hatte ihren Höhepunkt erreicht; alle Bande, welche das Menschengeschlecht zusammenknüpften, waren zerrissen;

 

 

alle jene edlen Keime in der Menschenbrust - die Liebe, das Mitleiden, die Achtung der menschlichen Würde, die Ehrfurcht vor dem Recht, die Liebe zur Wahrheit, der Abscheu vor dem Laster - alle diese Keime waren am Ersticken: jetzt war die Zeit erfüllt, jetzt musste die Rettung eintreten, wenn nicht das menschliche Geschlecht, wie einst in der Sindflut, zu Grunde gehen sollte!

Zur Rettung hatte sich alle menschliche Kraft und jedes natürliche Gut, das den Sterblichen beschieden ist, als unzulänglich erwiesen. Das Schwert der grossen Welteroberer, der schwelgerische Sinnengenuss des Morgenlandes, die Wissenschaft der Ägypter, die Kunst und sog. Humanität der Griechen, die Weisheit der römischen Gesetzgebung: alles, alles war erschöpft, und die Menschheit war stets tief gesunken. Jetzt war die Zeit erfüllt, jetzt musste die Rettung, und zwar aus Himmelshöhe, gebracht werden!

Das Volk Gottes hatte seine geschichtliche Laufbahn vollendet. Die Weissagungen vom Messias und seinem Reiche waren klar und immer klarer an daselbe ergangen; seine Vorbilder waren deutlich und immer deutlicher erschienen; das Szepter war von Juda gewichen, und was immer noch der Rettung und der Erhebung fähig war im Judenvolke, das erhob sehnsüchtig die Augen gen Himmel, und rief: "Tauet, Himmel, den Gerechten! Es sprosse Ihn die Erde!" Jetzt war die Zeit erfüllt, jetzt musste Er erscheinen, der verheissene und vorgebildete Messias, der wahre König von Davids Stamme, dessen Herrschaft von Ewigkeit währet zu Ewigkeit!

Auf seine Ankunft waren auch die Heidenvölker vorbereitet. Von Noah her, ihrem gemeinsamen Stammvater, hatten noch dunkle Überlieferungen von der ursprünglichen Messias-Verheissung sich auch bei ihnen erhalten; die Juden, die in Babylonien, Assyrien, Medien, Persien und Ägypten mit den Heiden in Berührung kamen, hatten diese heiligen Überlieferungen im Schosse der Heidenwelt aufgefrischt, und durch ihre heiligen Bücher allenthalben die Erwartung auf den kommenden Friedensfürst und Erlöser neu belebt, so dass auch die edlen Seelen im Römerreiche sich vielfach der frohen Hoffnung zuwandten, dass das Heil - ein wunderbares Heil - vom Morgenlande her kommen werde über den ganzen Erdkreis. Jetzt war die Zeit erfüllt, jetzt musste der wahre "Sohn Gottes" herabsteigen und - als Beherrscher der Elemente, als Herr über Leben und Tod, als Gott der Ober- und der Unterwelt, namentlich aber als Gott der heiligen Liebe - die falschen Götter zu Schanden machen und ihre Tempel zertrümmern!

Und Du kamst, o anbetungswürdige Gottheit der Liebe, Eingeborner des ewigen Vaters! Du stiegst vom Himmelsthrone hernieder auf die arme, arme Menschenwelt, um Alles zu erleuchten, zu heilen, zu trösten und zu retten, was sich gläubig und vertrauensvoll zu Dir hinwandte! Und mitten im tiefen Dunkel der Mitternacht erscholl auf einmal die freudige Botschaft aus Himmelshöhe:

Gloria in Excelsis Deo!

 

Ehre sei Gott in der Höhe,
und Friede den Menschen auf Erden,
die guten Willens sind!
 

 

 (Auszug aus: LEBEN JESU, von L.C.Businger 1873)

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