Die sieben letzten Worte
Drei lange, schreckliche Stunden hindurch lag der liebe Herr Jesus Christus auf dem harten Todbette des Kreuzes: ahnest du wohl, o christliche Seele, die geheimnisvollen, hohenpriesterlichen Gebete, die Er während dieser Opferstunden zum himmlischen Vater emporsandte für seine Jünger und für alle zukünftigen Verfolger? O wer hineinzuschauen vermöchte in diese Geheimnisse des allerheiligsten Herzens Jesu während seines dreistündigen Todeskampfes! - Doch sieh, Er wollte uns diese unergründlichen Geheimnisse seiner Liebe und Barmherzigkeit gleichsam zu verkosten geben durch die sieben letzten Worte. Wunderbare Worte voll der Kraft, zur Stärkung unseres Glaubens, zur Befestigung unserer Hoffnung, zur Entzündung unserer Liebe! Vernimm, o christliche Seele, diese Worte aus dem süßen Munde deines sterbenden Lehrmeisters mit Ehrfurcht und Gelehrigkeit, und präge sie, als des Herrn Testament, unverwüstlich in dein Gemüt.
1. Jesus aber sprach: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"
Welch eine Bitte! An Leib und Seele verwundet und gemartert wie noch kein Mensch gemartert worden, hat der Erlöser dennoch mehr Mitleid mit seinen grausamen Peinigern als mit sich selbst. Der Gedanke an die ewige Verdammung dieser verblendeten Menschen durchbohrt seine Seele mit heftigsterm Schmerze als all die Lästerworte, die sie wider Ihn ausstoßen. Bevor Er seine eigene Todesangst und Verlassenheit Gott klagt, bevor Er seine Mutter und den Liebesjünger Johannes tröstet, fleht Er für seine wütenden Feinde, die in selbstverschuldeter, leidenschaftlicher Verblendung seine göttliche Herrlichkeit nicht erkennen: "Vergib ihnen, o Vater, die Schuld ihrer Unwissenheit!" - Also liebevoll und barmherzig hat mein Jesus an seinen Feinden gehandelt; Feindesliebe ist die erste Wissenschaft, die Er von der Lehrkanzel des Kreuzes herab mir verkündet: wie könnte ich Ihm gefallen, wenn ich denen, die mich hassen und verfolgen, Böses mit Bösem vergelten wollte? O grundgütiger Jesus, aus Liebe zu Dir nehme ich mir fest vor, meinen Beleidigern jederzeit schnell und aus ganzer Seele zu verzeihen. Dich aber bitte ich inbrünstig, da Du gegen deine grimmigen Feinde Dich also mild erweisest, so wollest Du nicht etwa mit deinen Freunden nach der Strenge deiner Gerechtigkeit ins Gericht gehen. Hast Du deinen Feinden verziehen, o so verzeih auch deinen Freunden! Sieh, ich werfe mich demütig vor dein heiliges Kreuz nieder. Ich spotte Deiner nicht, wie die Juden, sondern ich ehre Dich, wie die frommen Christen. Ich lästere Dich nicht, sondern lobpreise Dich. Ich verfluche deine Marter nicht, sondern ich habe ein herzliches Mitleiden mit Dir. Wenn Du nun für diejenigen gebetet hast, die in ihren Sünden verstockt waren, so sei auch demjenigen gnädig, dem seine Sünden aufrichtig leid sind, und fleh auch für mich zu deinem himmlischen Vater: "Vergib ihm seine Sünden: er wußte nicht, was er tat."
2. Einer aber von den Übeltätern, die da hingen, lästerte Ihn und sprach: "Wenn Du Christus bist, so hilf Dir und uns." Der andere aber entgegnete, verwies es ihm und sprach: "Fürchtest auch du Gott nicht, da du doch die selbe Strafe erleidest? Wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdient haben. Dieser aber hat nichts Böses getan." Und er sprach zu Jesus: "Herr, gedenke meiner, wenn Du in dein Reich kommst." Und Jesus sprach zu ihm: "Wahrlich sage ich dir: Heute noch wirst du mit Mir im Paradiese sein."
Die Vorbilder erfüllen sich. So bestand sich einst auch der ägyptische Joseph, das Vorbild Christi, in den Tagen seiner Erniedrigung zwischen zwei Missetäter: dem Einen sagte er seine Wiedererhebung, dem Anderen sein Gericht voraus. Aber auch Christus zwischen den zwei Missetätern am Kreuze ist sein Vorbild: so wird Er am großen Gerichtstage vor unseren Augen erscheinen, zu seiner Rechten die Begnadigten, zu seiner Linken die Verworfenen. Mögest dann auch du, o christliche Seele, das süße Wort der Begnadigung hören: "Wahrlich sage ich dir, heute noch wirst du mit Mir im Paradiese sein!"
Und wer ist dieser, der zuerst gewürdigt wurde, solch trostreiche Worte zu vernehmen? Die heilige Schrift nennt uns weder seinen Namen noch seine frühern Lebensschicksale, und bezeichnet ihn einfach, wie seinen Leidensgefährten, als Straßenräuber. Die christliche Legende hat uns den Namen des reumütigen Schächers, des Dismas, aufbewahrt, und versichert uns, er sei jener gleiche Räuber, welcher einst der heiligen Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten Gastfreundschaft erwiesen habe. O des Glücklichen, der in seiner Todesstunde so gnadenvolle Verheißung empfing! Du aber, o christliche Seele, erwäge die Gesinnung des reumütigen Schächers, um derentwillen er solcher Verheißung teilhaftig wurde.
Er erkennt seine Schuld, reumütig bekennt er sie vor aller Welt, bußfertig ist er bereit, die verdiente zeitliche Strafe zu ertragen: "Wir leiden mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdient haben." O dass jeder Sünder es erfaßte, welchen Wert in den Augen des göttlichen Richters solch demütige Selbstanklage hat! - In herzlichem Mitleiden und starkmütiger Liebe steht er ein für Christus und wehret, soweit möglich, die Lästerungen von Ihm ab, indem er dessen Unschuld bezeugt: "Dieser aber hat nichts Böses getan." O beachte es wohl: zur Stunde, wo alle Umstehenden nur Schimpf und Lästerung wider Jesum ausstoßen, wo die eigenen Freunde und Jünger ihren Meister verleugnet oder doch feige verlassen haben, bezeugt dieser Missetäter furchtlos die Unschuld Jesu. Was flößt ihm die Kraft zu solch starkmütigem Bekenntnisse ein? Die Liebe, die Liebe, die stark ist wie der Tod! Nun wendet er sein Haupt, blickt flehentlich auf zum Erlöser und spricht: "Herr, gedenke meiner, wenn Du in dein Reich kommst." Welch ein lebendiger Glaube! Er sieht einen entblößten, ans Kreuz geschlagen, von Wunden entstellt, und als Missetäter dem bittersten Tode preisgegebenen Menschen; aber sein Geistesauge sieht in diesem Menschen den "Herrn," den König, dem das "Reich" gehört, den Gott, der Macht hat, Gnade und Sündenvergebung zu gewähren. - Und er, der sein ganzes Leben in Missetaten zugebracht hat, wendet sich vertrauensvoll zu diesem göttlichen Herrn und König und bittet getrost um Gnade. Welch eine starkmütige Hoffnung! - Nicht um Irdisches fleht er, nicht um Linderung seiner Qual, nicht um Befreiung vom Tode: ein erbarmungsvoller Blick aus dem Auge des Gekreuzigten, wie er dem Petrus zu Teil geworden, Verzeihung seiner vielen Missetaten und ein gnädiges Andenken im himmlischen Reiche: das ist´s, wonach seine Seele verlangt. Welch heilige Sehnsucht!
So ist derjenige, der als Verbrecher den Calvarienberg bestiegen hat, in einen Heiligen umgewandelt worden, dessen Seele im Glanze aller Tugenden erstrahlet, und staunend fragen wir mit dem heiligen Kirchenlehrer Athanasius: "Wie ist es doch gekommen, dass aus dem Schächer ein Bekenner und Evangelist des Herrn geworden ist?" Hierauf antwortet der Psalmist: "Vom Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbar in unsern Augen." Wer vermag die Wunder der göttlichen Barmherzigkeit zu fassen oder zu erklären? Uns genüge, in der wunderbaren Bekehrung des Schächers, die liebliche Erstlingsfrucht des hohenpriesterlichen Gebetes Christi am Kreuze zu erkennen: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Diese Vergebung ward dem Reumütigen zu Teil, und gleichzeitig die Versicherung, dass er heute noch mit Christo im Paradiese sein werde. In welchem Paradiese? Im Kreise der Gerechten in der Vorhölle, zu welchen die Seele Christi nach dem Verscheiden hinabstieg, um ihnen die vollbrachte Erlösung zu verkünden, und dadurch diese Stätte der Sehnsucht in einen Ort paradiesischer Wonne umzuwandeln.
3. Es standen aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleophas, und Maria Magdalena. Da nun Jesus die Mutter und den Jünger, den Er liebte, stehen sah, sprach Er zu seiner Mutter: "Weib, siehe da deinen Sohn!"
Vier getreue, teilnehmende Menschen sieht der Erlöser in seiner Todesangst zu den Füßen des Kreuzes, drei Frauen und einen Mann. Von den Vieren, die in jener schrecklichsten Stunde mutig und furchtlos bei Christo ausharren, gehören drei dem "schwachen Geschlechte" an. Ein ewiger Ruhm für das weibliche Geschlecht - und wohl auch eine tatsächliche Prophetie für alle zukünftigen Jahrhunderte! -
O Maria, Schmerzensmutter unter dem Kreuze, wie fürchterlich erfüllt sich nun die Weissagung des greisen Simeon vom Schwerte, das dein jungfräuliches Mutterherz durchbohret! Freilich vermag ich mit all meinem Sinnen und Denken nicht, dein Leid zu ermessen; denn jetzt erwahret sich an dir das Klagelied des Propheten Jeremias: "Groß wie das Meer ist deine Betrübnis: wer kann dir helfen?" Doch ahnet meine Liebe, was du gelitten. Alle Wunden, die Jesus am Leibe trug, die Dornen seiner Marterkrone und die Nägel, die seine heiligsten Hände und Füße durchbohrten, trugst du wahrhaftig in deiner Seele; sein Schmerz war dein Schmerz geworden, weil ja sein Herz auch das deinige war! Und dennoch "stehst" du aufrecht, wie eine Heldin. Dein höchstes und einziges Gut, deinen Herrn und vielgeliebten Sohn siehst du am Kreuze dahinsterben, und dennoch brichst du unter dem furchtbaren Mutterschmerze nicht zusammen: als würdige Mutter des Hohenpriesters vereinigest du dein Opfer mit dem seinigen und bringst es der göttlichen Gerechtigkeit dar zum Heil der Welt; du stehst aufrecht, weil die vollkommenste Ergebung in Gottes Ratschlüsse dich aufrecht erhält und die Liebe zur erlösten Menschheit dich tröstet. - Sei gegrüßt, o Schmerzensmutter, o Königin der Martyrer, o treue, starkmütige Dulderin Maria! Seit jener Stunde, wo du unter dem Kreuze deines eingebornen Sohnes gestanden, bist du die Trösterin aller Betrübten und die Zuflucht aller Verlassenen geworden. Drum sieh, o Mutter, auch mich Armen zu deinen Füßen. Du kennst meine Trübsal und die Not derer, die mir besonders lieb und teuer sind. O mitleidigste und liebreichste Mutter, lass mich deiner mächtigen Fürsprache anempfohlen sein - besonders in der Stunde meines Todes. Dann, o Mutter, wenn alles mich verläßt, dann stell dich an meine Seite, wie du beim Kreuze deines sterbenden Sohnes gestanden, und schütze mich in meiner letzten Not!
Auf diese Schmerzensmutter unter´m Kreuze richtet der sterbende Sohn immer und immer wieder seine Blicke. Ach, wie zärtlich hat sie Ihn geliebt, wie treu für Ihn gesorgt und seinetwegen so mannigfachen Kummrer und namenloses Leid getragen während mehr als dreißig Jahren! Arme, verlassene Mutter! Der heilige Joseph ist gestorben, Jesus ringt mit dem Tode: wer soll nun in den Sorgen und Bedrängnissen dieses Erdenlebens ihre Stütze und ihr Vertrauter sein? - "Weib, sieh da deinen Sohn," - so tönt´s vom Kreuze herab. Den Johannes, den jungfräulich unschuldigen und reinen, Johannes den treubewährten, Johannes den glaubensstarken und hocherleuchteten, den gibt der sterbende Jesus seiner Mutter zum Ratgeber in den Angelegenheiten des irdischen Lebens, zum Beschützer und Sohne. Freilich ein schmerzlicher Tausch für Maria: statt des vortrefflichen Lehrmeisters der schwache Jünger, statt des Gottessohnes der Sohn eines armen Fischers, statt des inbrünstig geliebten eigenen Kindes ein Pflegekind! Dennoch vernimmt Maria dankbar das Wort des Erlösers, und wie damals, wo ihr das glorreiche Geheimnis ihrer Auserwählung verkündet wurde, so antwortet die demütige Magd des Herrn auch jetzt: "Es geschehe nach deinem Worte!"
4. Hierauf sprach Er zu dem Jünger: "Sieh da deine Mutter!" Und von derselben Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Glückselig dieser heilige Jünger Johannes, der solcher Ehre und Auszeichnung gewürdigt wurde, dass er die Königin Himmels und der Erde als seine Mutter begrüßen durfte! Glückselig aber auch du, o christliche Seele! Denn nach der Erklärung heiliger Lehrer wird in der evangelischen Erzählung der Name des heiligen Johannes deswegen nicht genannt, sondrn nur der Ausdruck "Jünger" gebraucht, um anzudeuten, dass jeder Mensch, der wahrhaft ein Jünger Christi ist, und sich gläubig am Kreuze des Erlösers festhält, in Wahrheit ein Kind Mariens ist, und als solches auf die zärtliche Mutterliebe und mächtige Fürsprache Mariens Anspruch hat. Ein großes, trostreiches Geheimnis! Der eingeborene Sohn Mariens stirbt am Kreuze - und in derselben Stunde wird sie die Mutter der Erlösten und empfängt das gesammte Menschengeschlecht in Johannes an Kindesstatt! Das ist also das Testament, der letzte Wille meines Erlösers am Kreuze, dass ich dich, o gebenedeite, süße Jungfrau Maria, als meine Mutter ehren und lieben soll, wenn ich sein "Jünger" sein will! O liebes, willkommenes Testament, ich will es vollziehen bis zum letzten Atemzuge!
5. Es war aber die sechste Stunde gekommen. Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über der ganzen Erde bis zur neunten Stunde, und die Sonne ward verfinstert. Und um die neunte Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: "Eli, Eli, lamma sabacthani?" Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du Mich verlassen? Als Einige der Umstehenden es hörten, sagten sie: "Siehe, dieser ruft den Elias!"
Sieh, die Geschöpfe haben sich erhoben wider ihren Schöpfer, das auserwählte Volk wider seinen Messias, um das ewige, unerschaffene Licht am Kreuze auszulöschen: vor diesem Frevel verbirgt die Sonne ihr Antlitz, und hüllt sich das erschaffene Himmelslicht in Finsternis! Das war ein so wunderbares und schreckliches Ereignis, dass selbst die Heidenvölker sich darob entsetzten und die Begebenheit in ihre Jahrbücher eintrugen, wie absonderlich aus jener Schrift zu entnehmen ist, welche Tertullian 164 Jahre nach dem Tode Christi an die Vorsteher des römischen Reiches richtete, und in welcher er, von dieser wunderbaren Finsternis sprechend, den Heiden zurief: "Ihr selber habt ja das Weltereignis in euren Jahrbüchern verzeichnet." Denn es war dies nicht etwa eine natürliche Sonnenfinsternis, wie solche entsteht, wenn der Mond zwischen Sonne und Erde zu stehen kommt (was damals zur Zeit des Ostervollmondes unmöglich war), sondern ein Wunder der göttlichen Allmacht, welche der Sonne befahl, während des dreistündigen Todeskampfes Jesu Christi ihre Strahlen gleichsam zurückzuhalten: ein Sinnbild der geistigen Finsternis, welche sich über das Judenvolk gelagert hatte! - Nun war die alte Weissagung des Propheten Amos erfüllt: "All jenem Tage, spricht Gott der Herr, wird die Sonne untergehen am Mittage, und am hellen Tage lass Ich finster werden das Land." Nun hatten die Juden jenes "Wunderzeichen vom Himmel", welches sie einst in der Bosheit ihres Unglaubens von Jesus gefordert hatten, und von welchem die ägyptische Finsternis anderthalb Jahrtausende zuvor nur das Vorbild gewesen war. Die Verblendeten! Das wunderbare Licht, das dreiunddreißig Jahre zuvor in stiller Mitternacht über den Fluren Bethlehems erschienen war, wollten sie nicht anerkennen: darum überfällt sie nun, am hellen Mittage, Finsternis und Todesnacht!
Und mitten in dieser schrecklichen Nacht ertönt abermals die Stimme des Gekreuzigten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du Mich verlassen!" - So vollkommen wollte der Erlöser, in freiwilliger Liebe zum sündigen Menschengeschlechte, die Strafgerichte des Herrn tragen und alle Bitterkeit des Todeskampfes verkosten, dass Er sogar jene schreckliche Nacht der Trostlosigkeit und Gottverlassenheit, welche die Sünde verdient hat, auf sich nahm und erduldete - damit uns dereinst im Todeskampfe der süße Trost der Gottesnähe um so reichlicher zu Teil werde. O gütigster Jesus! Lass die unaussprechlichen Peinen, welche Du während deines Todeskampfes an allen Gliedern deines gemarteten Leibes und an allen Kräften deiner betrübtesten Seele empfunden hast, für mich nicht verloren sein! Um deiner äußersten Verlassenheit und bitteren Tränen willen, sei mir gnädig und barmherzig, besonders in der Stunde meines Hinscheidens!
6. Hierauf da Jesus wußte, dass Alles vollbracht sei, sprach Er, damit die Schrift erfüllt würde: "Mich dürstet!" Es stand aber ein Gefäß voll Essig da. Und alsbald lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig, steckte ihn an ein Hysoprohr, brachte ihn an seinen Mund und gab Ihm zu trinken, indem er und die Übrigen sprachen: "Halt, wir wollen sehen, ob Elias komme, Ihn herabzunehmen und zu erretten!"
Wohl mochte Ihn dürsten, den göttlichen Dulder; denn seit dem Kelche des letzten Abendmahles, d. h. seit zwanzig Stunden, war nichts an seine heiligsten Lippen gekommen, als die Paar Tropfen Gallenweines vor der Kreuzigung, und das eigene Blut, das etwa von der dorngekrönten Stirne hinabgeträufelt war!
Wohl mochte Ihn dürsten, den Wundgeschlagenen; denn sein anbetungswürdiges Blut war Ihm, Tropfen um Tropfen, entzogen worden nebst aller Feuchtigkeit seiner Eingeweide, und die Quellen im Herzen waren auf dem Punkte, zu versiegen! Wohl mochte Ihn dürsten, den schmerzbeladenen Erlöser; seit zwanzig Stunden war Er mißhandelt, hin- und hergeschleppt, zergeißelt und gemartert worden auf jegliche Art und ohne Unterbrechung; die schrecklichen Kreuzesnägel brannten wie Feuer an seinen Händen und Füßen; alle seine Glieder waren von den Riemen der grausamen Geißelung zerfetzt; unzählige Dornen steckten wie Flammenspitzen, in seinem Schädel; Arme und Beine waren durch die gewaltsame Ausstreckung des Leibes auf den Kreuzesbalken gänzlich aus den Gelenken gerissen, und die Annagelung am Holze erlaubte Ihm nicht die mindeste Veränderung seiner qualvollen Lage: ach, in Folge solch´ unnennbarer Peinen mußte wohl eine Fieberhitze, wie sie noch kein sterblicher Mensch erduldet, seine Eingeweide verzehren. - O blicket hierher, ihr Unmäßigen und Genußsüchtigen, die ihr die Gottesgabe in strafwürdigem Taumel mißbrauchet, blicket auf die namenlose Pein des Menschensohnes am Kreuze: das ist euer Werk! Euere schmähliche Völlerei zu büßen, dürstet der Gekreuzigte, und wird in seinem Durste mit Essig getränkt. Weh´ euch, wenn ihr bei diesem Anblicke nicht den festen Entschluß faßet, von der schnöden Sklaverei der Trunksucht euch loszumachen!
Du aber, o christliche Seele, wende nun deine Blicke auf die Schmerzensmutter Maria. "Mich dürstet" - ruft ihr geliebtester Sohn; und die Mutter, die ihr Kind jederzeit mit so unaussprechlicher Treue gepflegt, die zu jeder Stunde ihres Lebens bereit gewesen, ihr Herzblut für Ihn dahinzugeben, sie blickt hinauf in sein sterbliches Antlitz, sie sieht die ausgedorrten, aufgeschwollenen, bebenden Lippen - und darf ihrem Kinde nicht beistehen! Sie, die Königin Himmels und der Erde, hat keinen Trunk kalten Wassers für ihr heißgeliebtes Kind! - "Mich dürstet" - ruft Er mit unsäglicher Wehmut vom Kreuze herab, und die Mutter darf ihrem Eingebornen nicht helfen! O wer vermag den herzzerreißenden Jammer der Schmerzensmutter zu erfassen!
"Mich dürstet!" Freilich, aber nicht allein nach einem gewöhnlichen Labetrunk dürstet der Erlöser, sondern nach dem Heile der Seelen. Ach, diese geistige Qual war unvergleichlich heftiger als die des leiblichen Durstes. In jenem Augenblicke sah der Erlöser im Geiste die endlose Reihe von Menschen, die, obwohl mit dem Erlösungsblute bezeichnet, und durch die Taufe in den Bund der Erlösten aufgenommen, dennoch zu Grunde gehen, weil sie ihres Erlösers vergessen. Nach diesen unglücklichen Seelen dürstet die unendliche Liebe des Menschensohnes; aber sieh, nicht einmal der Schächer zur Linken will Ihm seine Seele übergeben!
7. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, rief Er abermals mit lauter Stimme und sprach: "Es ist vollbracht! Vater, in deine Hände befehle Ich meinen Geist." Und da Er dies gesagt hatte, neigte Er sein Haupt und gab den Geist auf.
O großer, hochheiliger Augenblick, wie seit Erschaffung der Welt noch keiner gewesen und keiner mehr sein wird! - Auf dem Kalvarienberg ist lautlose Stille geworden; nur die Seufzer der Schmerzensmutter, das leise Stöhnen des Liebesjüngers und das Schluchzen der heiligen Büßerin Magdalena unterbrechen die Todenstille. Durch alle Himmel aber geht in diesem Augenblicke ein freudig Jubilieren, und ein Chor der seligen Geister ruft es frohlockend dem andern zu: "Würdig ist das Lamm, das getötet worden, zu empfangen Macht und Gottheit und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob! Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott, König der Ewigkeiten! Alle Völker werden kommen, und vor Dir anbeten; denn deine Gerichte sind offenbar geworden!"
Ite, missa est! Ja, nun ist es vollendet und vollbracht, das Hochamt der Welterlösung, welches der König aller Martyrer und wahre Hohepriester Jesus Christus, im Beisein zahlloser Engelscharen, auf dem Altare des Kreuzes dem ewigen Vater dargebracht hat. Nun ist erfüllt und vollbracht, was die Patriarchen und Propheten seit Jahrtausenden in Wort und Vorbild geweissagt hatten. Nun ist offenbar geworden und vollbracht, was der barmherzige Gott von Ewigkeit her beschlossen und den Stammeltern im Paradiese verheißen hatte. Nun ist eingetroffen und vollbracht, was die Seelen der Gerechten in der Vorhölle und alle Frommen auf Erden mit so glühender Sehnsucht erwartet hatten: die Erlösung und ewige Versöhnung des Menschengeschlechtes! - Und siehe, gleich dem müden Arbeiter, der nach vollbrachtem Tagewerk Ruhe und Schlummer sucht, neigt der Erlöser sein Haupt, Er empfiehlt seine allerheiligste Seele in die Hände des Vaters, und so scheidet sie (nicht etwa gezwungen durch das Gesetz des Todes, sondern durch einen Akt seines freien Willens) vom Leibe. Jetzt schließen sich seine Augen, das anbetungswürdige Herz hat aufgehört zu schlagen und der Kampf ist vollendet.
O Leichnam meines Erlösers, unzertrennlich verbunden mit der Gottheit, und darum hochheilig und anbetungswürdig am Kreuze und im Grabe, wie einst in der Krippe und auf Tabor: nimm an das Opfer meines Dankes und meiner Huldigung! Nimm an meine flehentliche inbrünstige Bitte. Wie freundlich und mildreich neigest Du dein Antlitz vom Kreuze herab mir entgegen! Wie liebevoll breitest Du deine Arme nach mir aus! Wie barmherzig öffnest Du mir deine zahllosen Wunden, als ebenso viele Zufluchtsstätten für reumütige Sünder! O so erhöre denn jetzt, in diesem gnadenreichen Augenblicke, meine flehentliche, inbrünstige, meine einzige Bitte: Lass dereinst mein Sterben dem deinigen ähnlich sein! O Jesus, Du hast deine scheidende Seele in die Hände des himmlischen Vaters anbefohlen - gib, dass auch mein letztes Gebet also Laute: "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!" Du wolltest in jener großen, fürchterlichen Stunde deine gebendeite Mutter Maria bei Dir haben - gib, dass sie, durch ihre mütterliche Fürsprache, auch mir in der Todesstunde beistehe! Lass mich sterben wann, wo und wie es Dir wohlgefällt, nur lass mich nicht unvorbereitet sterben, lass mich nicht sterben ohne Maria! -
(Auszug aus: LEBEN JESU, von L.C.Businger, 1874)
