- Gottes enge Pforte -

  • Frohbotschaft oder Drohbotschaft
  • Predigt von Kardinal Meisner, Köln




"Kehrt um; denn nahe ist das Königtum des Himmels." Mit diesen Worten faßt Matthäus, der Evangelist zusammen, was Johannes der Täufer und Jesus gemäß seiner Schilderung übereinstimmend verkündeten. Doch die Wächter haben nicht gejubelt; sie haben Johannes geköpft und Jesus gekreuzigt.
Was war das für eine Freudenbotschaft, die zur Hinrichtung der Freudenboten führte? Jesus, auf den ich mich im folgenden konzentrieren will, erfüllt die Ankündigung des Jesaja mit seinem Evangelium, das er verkündet und zugleich verkörpert. In Ihm ist Gott König geworden, sein Königtum ist nahe; aber offensichtlich stellt das keineswegs für jeden einen Grund zum Jubel dar. Und das ist leicht zu erklären: Nur bei demjenigen kann die Nachricht von der "Thronbesteigung" Gottes Freude auslösen, der gewillt ist, unter seiner Herrschaft zu leben. Nicht zufällig wird die herrliche Endzeitbeschreibung des Buches Jesaja von der Gerichtsdrohung beschlossen, die ihrerseits in den letzten Sätzen kulminiert: "An jedem Neumond und an jedem Sabbat wird alle Welt kommen, um mir zu huldigen, spricht der Herr. Dann wird man hinausgehen, um die Leichen derer zu sehen, die sich gegen mich aufgelehnt haben. Denn der Wurm in ihnen wird nicht sterben, und das Feuer in ihnen wird niemals erlöschen; ein Ekel sind sie für alle Welt." (Jes 66,23-24)
Offensichtlich ist das Evangelium Jesu Christi des einen Freud, aber in demselben Maße des anderen Leid. Am treffendsten wird man diesen Zwiespalt vielleicht mit dem greisen Simeon formulieren, der Maria über Jesus prophezeite: "Dieser ist dazu bestimmt, daß in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird." (Lk 2,34) Ein und dieselbe Freudenbotschaft Jesu bringt den einen zu Fall und richtet den anderen auf, ist daher dem einen Verheißung, dem anderen Drohung. So stellen die beiden Aspekte, die das Schlagwort "Frohbotschaft oder Drohbotschaft" als miteinander unvereinbar darstellen will, in Wahrheit nur zwei Seiten ein und derselben Medaille dar.
Darum kann es kaum verwundern, daß Christus beileibe nicht nur dem Wind und dem See oder den Dämonen droht (Mt 8,12. 26; 17,18). Schon die flüchtige Durchsicht des Matthäusevangeliums beispielsweise fördert eine lange Liste von Menschen zutage, denen es ebenso ergeht: diejenigen, die nicht gerechter sind als die Schriftgelehrten und die Pharisäer, die ihrem Bruder zürnen oder ihn beschimpfen; die nicht rechtzeitig Frieden mit ihrem Gegner schließen; die ihren Mitmenschen nicht vergeben; die andere richten; die das Heilige den Hunden geben und den Schweinen die Perlen: die keine guten Früchte hervorbringen; die den Willen des himmlischen Vaters nicht erfüllen; die die Apostel nicht aufnehmen und anhören wollen; die Christus vor den Menschen verleugnen; die ihr irdisches Leben gewinnen wollen; die den Heiligen Geist lästern; die Bösen, die Gottes Gesetz übertreten und andere, namentlich Jünger Christi, zum Bösen verführen; die ihrem Bruder nicht von ganzem Herzen vergeben; die Reichen, die die Ankunft des Herrn nicht erwarten; die die Gabe des Glaubens nicht nützen; die keine praktische Nächstenliebe üben; ebenso die Städte Chorazin, Betsaida und Karfarnaum, weil sie sich nicht bekehrt haben; des weiteren Judas und Schließlich die Hohenpriester und Ältesten, die Schriftgelehrten und namentlich die Pharisäer. Kurz: Christus droht all denen, die sich der Ausbreitung des Königtums Gottes entgegenstellen.
Christi Drohungen bleiben übrigens keineswegs abstrakt, sondern können in geradezu anstößiger Weise konkret werden. So berichtet uns das Lukasevangelium: "Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ, so daß sich ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischte. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, daß nur die Galiläer Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen Galiläer aber nicht? Nein, im Gegenteil Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt. Oder jene achtzehn Menschen, die beim Einsturz des Turmes von Schiloach erschlagen wurden - meint ihr, daß nur sie Schuld auf sich geladen hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt." (Lk 13,1-5)
 
Die Apostel, die im Auftrag Christi die Frohbotschaft verkünden, machen dieselben Erfahrungen wie er, denn "der Jünger muß sich damit begnügen, daß es ihm geht wie seinem Meister, und der Sklave, daß es ihm geht wie seinem Herrn. Wenn man schon den Herrn des Hauses Beelzebul nennt, dann erst recht seine Hausgenossen" (Mt 10,25). So ist es nicht verwunderlich, daß auch Paulus dieselbe Ambivalenz zum Ausdruck bringt wie einst Simeon. Er bezeichnet im Zweiten Korintherbrief die Frohbotschaft als "Duft der Erkenntnis Christi" und fährt dann fort: "Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verlorengehen. Den einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt; den anderen Lebensduft, der Leben verheißt." (2 Kor 2,14-16)
Im Neuen Testament finden sich dementsprechend auch außerhalb der Evangelien neben Freudenäußerungen, Trost und Zuspruch deutliche Drohungen. Schon dem im Anvertrauten in Philippi stellt Paulus den drohenden Heilsverlust vor Augen, wenn er sie dazu auffordert, sich mit Furcht und Zittern um ihr Heil zu mühen. Im Galaterbrief und namentlich dem Zweiten Korintherbrief attackiert Paulus seine persönlichen Gegner mit Drohungen, kündigt an, gegen gewisse Leute unerschrocken und fest vorzugehen, wie er schon im Ersten Korintherbrief - metaphorisch, aber nicht weniger entschlossen - fragte, ob er beim nächsten Besuch etwa mit dem Stock kommen solle. Im Römerbrief droht er gleich der ganzen Menschheit, Juden wie Heiden, mit Gottes Gericht; Jesus allein ist es, "der uns dem kommenden Zorn Gottes entreißt" (1 Thess 1,10). Den Irrlehrern drohen der Judasbrief, der in den Zweiten Petrusbrief aufgenommen wird, sowie insbesondere die beiden ersten Johannesbriefe. Und die Drohungen der Apokalypse sind bisweilen so düster und grauenvoll, daß sie dem heutigen Menschen die Lektüre wirklich erschweren können.
 
Wie ist dieser neutestamentliche Befund zu deuten? Welches Fazit müssen wir ziehen? Fassen wir zusammen: Gottes Sohn wird Mensch; in ihm kommt das Königtum Gottes zu den Menschen. Diese Nachricht ist eine Freudenbotschaft für alle, die auf Gottes Gerechtigkeit hoffen, aber zugleich eine massive, konkrete Drohung für diejenigen, die sich ihr zu entziehen gedenken. Entsprechend zwiespältig sind die Reaktionen der Menschen auf die Frohbotschaft: Sie reichen von Begeisterung bis hin zu Gewalttat, eben wenn sie sich bedroht fühlen. Nicht zufällig kündigt Jesus an, er bringe nicht den Frieden, sondern das Schwert (Mt 10,34). Woran die Apostel auch jeweils gestorben sind, Altersschwäche war in den seltensten Fällen die Todesursache. Wer nicht in der apostolischen Zeit stehenbleiben möchte, lese die verschiedenen Märtyrerakten; ihnen ist unschwer zu entnehmen, wieviele Menschen die Frohbotschaft als handfeste Bedrohung empfanden, die sie nur mit Folter und Mord aufheben zu können glaubten.
 
Die Einstellung des jeweiligen Menschen zur Frohbotschaft also macht diese zur Drohung oder zur Verheißung. Warum aber ist es nun so wichtig, den drohenden und warnenden Aspekt der Frohbotschaft nicht unter den Tisch fallen zu lassen? Das hat vornehmlich die folgenden Gründe:
Zunächst einmal gehören die Mahnung und die Drohung ganz einfach zur authentischen, unverkürzten Botschaft Christi und der Apostel hinzu. Christus spricht nicht nur von denen, die beim Weltgericht zur Rechten des Richters stehen werden, sondern auch den denen zur Linken (Mt 25,31-46). Man muß das Neue Testament schon mit der sprichwörtlichen "Schere im Kopf" lesen, wenn man dies leugnen will. Des weiteren stellt die Drohung lediglich die Kehrseite der Frohbotschaft Christi dar. Auch diese dürfte einsichtig sein: Wenn ich etwas kostbares geschenkt bekomme, dann empfinde ich nicht nur Freude darüber, sondern zugleich auch die Sorge, das Geschenk wieder zu verlieren; und je wertvoller das Geschenk ist, desto akuter die Sorge. Je höher ich die Frohbotschaft vom neuen Leben der Christen einschätze, desto ernster nehme ich die drohende Gefahr, wieder in meine alte, heillose Existenz zurückzufallen. In diesem Sinne mahnt Paulus zu Furcht und Zittern um das Heil; hält die Apokalypse zum Durchhalten in der Bedrängnis an; lehrt Jesus seine Jünger zu beten: "Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!"
 
Gänzlich fatal wäre es, die Möglichkeit des Heilsverlustes an sich zu leugnen. Dazu muß man de facto entweder die Entscheidungs- und Willensfreiheit der Menschen ignorieren oder die Konsequenz und Gerechtigkeit Gottes. Zu beiden gibt es angesichts der klaren Worte in der Offenbarung keinen Anlaß. Wer vom Evangelium getroffen wird, muß sich entscheiden: "Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet; wer aber nicht gleubt, wird verdammt werden." (Mk 16,16)
 
Schließlich existiert für den Christen auch nicht die Möglichkeit, den drohenden Aspekt der Offenbarung einfach zu übergehen, weil wir nicht selektiv glauben können. Solche Versuche gibt es in der Kirchengeschichte freilich bis heute in Hülle und Fülle. Jede willkürliche, eigenmächtige Auswahl von Glaubensinhalten aber - zu griechisch: hairesis - ist gemäß der klassischen dogmatischen Sprache Häresie: eine Irrlehre, die Jesu Botschaft nicht ernst nimmt und ihr in ihrer Ganzheit und ihrem Tiefgang Gewalt antut.
Das Heil, die Erlösung von der Macht der Sünde, ist ein so unvergleichlich kostbares Geschenk, daß wir allen Anlaß haben, uns vor seinem drohenden Verlust in acht zu nehmen. Diese Mahnung, die der Gutwillige freilich mehr als Warnung denn als Drohung verstehen wird, darf nicht verschwiegen werden, und am allerwenigsten vom Papst und den Bischöfen als den authentischen Lehrern des Glaubens. Dieses Problem ist im Grunde so alt wie die Kirche selbst. Schon der Hebräerbrief mahnt: "Gehorcht euren Vorstehern, und ordnet euch ihnen unter, den sie wachen über euch und müssen Rechenschaft darüber ablegen." (Hebr 13,17) Diese Verantwortung der Hirten läßt sich nicht in Beliebigkeit auflösen - auch nicht durch Mehrheitsbeschlüsse. 

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