Das Reich Gottes um uns

"Gebenedeit sei die allerheiligste Dreifaltigkeit und die unzerteilte Einigkeit; lasst uns sie loben, denn sie hat an uns Barmherzigkeit getan." (Tob. 12) "Herr, unser Gott, wie wunderbar ist Dein Name auf dem ganzen Erdboden." (Ps. 8,1).
Mit diesen Worten der Heiligen Schrift weist die katholische Kirche am Dreifaltigkeitsfest beim Beginn der heiligen Messe die Gläubigen auf das wunderbare Wirken des Dreieinigen Gottes zum Heil der Menschen hin. Diese Wirksamkeit ist eine dreifache nach dem Wesen der drei göttlichen Personen.
Jesus Christus hat uns in der zweiten Mitte des "Vater unser" gelehrt, zu beten: "Dein Reich komme!"
Damit wollen wir sagen:
1. dass das Reich Gottes auf Erden, die Kirche, sich immer mehr verbreite;
2. dass das Reich der Gnade und Liebe jetzt in unser Herz einkehre, damit wir
3. nach diesem Leben alle in das Reich des Himmels gelangen mögen.
Gott ist der Herr und König der ganzen Welt; denn alles hat er ins Dasein gerufen, alles erhält er in demselben, und darum ist auch alles seinem Zepter unterworfen. Man kann daher mit Recht das ganze Weltall, Himmel und Erde, das Reich Gottes nennen. Allein in diesem Sinne kann hier der Ausdruck "dein Reich" nicht genommen werden. Dem Gottesreich der Schöpfung gehören wir ja notwendig an, und wir brauchen daher nicht erst zu bitten, dass er zu uns komme. Es ist also hier ein anderes Reich Gottes gemeint, und zwar ein dreifaches: ein Reich Gottes um uns, ein Reich Gottes in uns und ein Reich Gottes über uns.
1. Das Reich Gottes um uns ist jenes herrliche Reich, das der Heiland mit seinem kostbaren Blute sich erworben hat, das er fortwährend schützt und regiert, seine Kirche auf Erden. Er selbst legt der Kirche den Namen "Reich Gottes" bei, indem er sagt, er sei dazu gesandt worden, "das Evangelium vom Reiche Gottes zu verkünden" (Luk 4,43), und er werde am Ende der Welt seine Engel aussenden, damit sie "aus seinem Reiche alle Ärgernisse sammeln". (Matth 13,41) Wir sind nun zwar durch die heilige Taufe in dieses Reich aufgenommen; nichtsdestoweniger bitten wir, dass es zu uns komme, in dem Sinne nämlich, dass wir immer vollkommenere Mitglieder desselben werden. Namentlich aber bitten wir, dass alle jene, die das Glück noch nicht haben, der Kirche anzugehören, sie kennen lernen und in dieselbe eintreten mögen.
2. Das Gottesreich in uns ist das Reich der göttlichen Gnade und Liebe in den Herzen der Gerechten. Von diesem redet der heilige Paulus, wenn er sagt: "Das Reich Gottes ist nicht Speis und Trank, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist." (Röm 14,17). Dasselbe ist nur dann wirklich in uns, wenn der Heilige Geist mittels der heiligmachenden Gnade in unserm Herzen wohnt und durch seine Einsprechungen unser Tun und Lassen leitet. Wohl uns, wenn das der Fall ist; denn dann herrscht zugleich himmlischer Friede und himmlische Freude in unserm Innern, wir verkosten dann schon hier auf Erden einen Vorgeschmack des seligen Lebens der Ewigkeit. Leider herrscht im Herzen so mancher, die äußerlich dem Reiche Christi angehören, die Sünde und den Fürst der Sünde, der Satan; von diesem lassen sie sich leiten, seinen Einflüsterungen folgen sie. Unruhe, Bitterkeit, Trostlosigkeit sind die traurigen Früchte davon und lassen diese Unglücklichen jetzt schon ahnen, was ihrer im andern Leben wartet. Aber auch bei jenen, in denen der Heilige Geist durch seine Gnade wohnt und herrscht, stehen seiner Herrschaft noch mancherlei Hindernisse im Wege. Ungeordnete Neigungen der verschiedensten Art widerstreben seinen heiligen Eingebungen und sind vielfach schuld, dass dieselben entweder gar nicht oder nur unvollkommen ausgeführt werden. Erst nach vielem Kämpfen und Ringen gelingt es uns, dem Reich der Gnade die ausschließlich Herrschaft in unserm Innern einigermaßen zu sichern. Indem wir nun beten: "Dein Reich komme", sprechen wir unser Verlangen aus, dass der Heilige Geist bei uns und allen Menschen das Reich der Sünde mehr und mehr zerstöre und das Reich seiner Gnade immer vollkommener ausgestalte. Dabei sollen wir uns vornehmen, mit seiner Gnade stets treu und gewissenhaft mitzuwirken, damit wir nicht, während wir mit dem Munde sprechen: "Dein Reich komme", durch unsere Werke ihm den Weg zu unserem Herzen versperren.
3. Das Reich Gottes über uns ist kein anderes als jenes Himmelreich, von dem geschrieben steht: "Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört, und in keines Menschen Herz ist es gekommen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben." (1 Kor 2,9). Dieses Reich ewigen Friedens und ewiger Seligkeit ist es vor allem, was wir bei dieser zweiten Bitte des Vaterunser im Auge haben. Die Kirche auf Erden ist gleichsam die Vorhalle, welche zum Himmel führt, die göttliche Gnade und Liebe der Schlüssel, der uns die Himmelspforte öffnet, der Himmel selbst aber ist das Ziel und die Erfüllung all unserer Wünsche, der selige Ort, wo nichts mehr zu wünschen übrig bleibt. Und obschon dieses Reich über uns ist und wir zu demselben emporsteigen müssen, um es in Besitz zu nehmen, so beten wir doch: "Dein Reich komme", weil es uns wirklich als der Lohn eines tugendhaften Lebens von der Hand Gottes zukommt nach den Worten der Schrift: "Sie werden empfangen ein herrliches Reich und eine zierliche Krone aus der Hand des Herrn" (Weish 5,17), und weil der Heiland selbst dereinst kommen wird, uns dasselbe zu übergeben mit den Worten: "Kommet, ihr Gesegnete meines Vaters, nehmt Besitz vom Reiche, welches euch bereitet ist vom Anbeginne der Welt." (Matth 25,34) O glückselig wir alle, wenn am großen Gerichtstag auch wir zu jenen Gesegneten gehören, denen der göttliche Richter das himmlische Erbteil übergeben wird! Lasset uns daher jetzt inbrünstig und beharrlich beten: O Vater! verlass uns nicht, schütze und bewahre uns, damit wir in diesem Lande der Verbannung nicht elend zugrunde gehen, sondern nach glücklich vollbrachter Pilgerschaft zu Dir in Dein himmlisches Reich gelangen mögen. Gerne wollen wir alle Mühsale und Leiden erdulden, wollen keine Anstrengung, keinen Kampf scheuen, wenn nur dereinst die ewige Freude des Himmels unser Anteil sein wird. -
Mit solchem Gebet sollen wir auch die innerliche Bereitwilligkeit verbinden, großmütig jedes noch so schwere Opfer zu bringen, um das Himmelreich zu gewinnen. Dazu fordert uns Jesus Christus selbst auf im Gleichnisse vom Kaufmanne, der eine kostbare Perle gefunden hat und nun hingeht und alles verkauft, was er besitzt, um derselben habhaft zu werden, wohl wissend, dass sie unvergleichlich mehr wert ist als alles, was er dafür hingibt.
Nach dieser kurzen Definition vom Reich Gottes drängt sich uns die Frage auf, wer ist denn der unumschränkte Herr in demselben? Darauf gibt uns der heilige Glaube die Antwort, indem er uns lehrt, dass Gott der höchste Herr Himmels und der Erde ist. In Gott sind aber drei göttliche Personen. Jede derselbe nimmt teil an dieser Herrschaft im Reich Gottes.
(Entnommen aus:

von Pfarrer Joseph Reiter, 1911)