Das Leiden Christi und die Sünde

Wenn wir die Äusserungen der Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit Gottes betrachten, immer erscheint die Sünde als ein unendlich grosses Übel. Am gewaltigsten aber würde das wohl bei einer näheren Betrachtung jenes Werkes hervortreten, welches die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes im Bunde vereint vollbracht haben, nämlich die Erlösung, die Menschwerdung, das Leiden und Sterben Jesu Christi, wobei sich die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einander den Friedenskuss (Ps. 84, 11) gegeben haben.
Wir begreifen es leicht, dass auf die Befolgung des göttlichen Willens die Belohnung, und auf die Übertretung die Strafe folgen soll, wie sich beides an den Engeln gezeigt hat, nach Verschiedenheit ihres Verhaltens. Dann hat aber auch der Mensch gesündigt, und die ihm gebührende, wohlverdiente, ihm angedrohte Strafe ist nicht eingetreten, ja seither sind dem Menschengeschlechte immer grössere und reichere Gnaden zugeströmt, so dass unzählbare Menschenscharen schon längst alle Freuden des Himmels genießen und ein ununterbrochener Menschenstrom fortwährend in den Himmel einzieht. Wohl sind seit jener ersten Sünde auch immerfort Leiden und Trübsale über die Menschen niedergegangen, allein diese waren vielmehr Heilmittel und Medizin für sie, als eigentliche Strafen. Wie kommt es also, dass dem sündigen Menschengeschlecht die Strafen erspart bleiben und so viele und unendliche Gnaden zufließen können? - Durch das wunderbare Werk der Erlösung!
Sobald einmal die Sünde begangen ist, so ist es Sache der göttlichen Gerechtigkeit, in der Unordnung der Sünde wiederum durch entsprechende Züchtigung die Ordnung herzustellen; der Gerechtigkeit muss ihr Recht werden, und sie kann nicht die begangene Sünde einfach als nichtbegangen betrachten. Andererseits aber wollte die göttliche Barmherzigkeit den schuldbeladenen Menschen verschonen und ihm noch überdies unendliche Gnade und unendliche Glorie und Belohnung geben, wie den treugebliebenen Engeln. Wie sollte also der Gerechtigkeit Genüge geschehen, wenn man den Schuldigen nicht züchtigen sollte? Nur dadurch, dass etwa ein Nichtschuldiger als Stellvertreter des Schuldigen sich züchtigen ließe. Aber wäre das nicht ungerecht, den Nichtschuldigen zu züchtigen? Ja, wenn er gegen seinen Willen gezüchtigt würde, nicht aber, wenn er sich freiwillig dazu erbietet. Aber ist es nicht auch auf der anderen Seite wiederum ungerecht, dass der Schuldige ungestraft bleibt? Ja, wenn er fortan schuldig bleiben würde, nicht aber, wenn jener freiwillige Übernehmer der Strafe ihm auch die Verschuldung abnimmt. Geschieht es doch auch im öffentlichen Leben, dass man den Schuldner unbehelligt entlässt, sobald ein Nichtschuldiger für ihn freiwillig die schuldige Summe erlegt, wie dies oft beim Bürgschaftleisten geschieht. Aber wo findet sich einer, der die Sündenschuld der Menschen auf sich nehmen und abzahlen könnte? Die Engel können das nicht, weil die Schuld unendlich gross ist, also eine unendlich grosse Bezahlung fordert. Kein Geschöpf und alle Geschöpfe miteinander vermögen nicht, diese Abzahlung zu übernehmen; das kann nur der, welcher Unendliches zu leisten vermag, und der ist nur Gott allein, eine göttliche Person. Aber die göttliche Person ist selbst die vom Menschen beleidigte, wie wird sie eine so grosse Liebe zum Menschen haben, von dem sie beleidigt und erzürnt worden ist; und diese göttliche Person ist ja jene, welche die Genugtuung empfangen muss, wie sollte sie selbst sie leisten? Ferner ist die göttliche Person auch nicht fähig, ein Leiden als Strafe für die Sünde der Menschen zu tragen, und ohne solch stellvertretendes Leiden hält sich die göttliche Gerechtigkeit nicht für gesühnt, noch viel weniger angeregt, dem Menschen auch noch überdies so grosse Gnade und Glorie zukommen zu lassen, wie den treugebliebenen Engeln.
Aber alle diese Schwierigkeiten sind durch die göttliche Weisheit und Liebe gehoben; der himmlische Vater ist bereit, seinen eingebornen Sohn hinzugeben, auf dass er für die sündhaften Menschen alles stellvertretend leiste; der Sohn Gottes ist bereit, diese Leistung auszuführen, die menschliche Natur anzunehmen, alle Sünden der Welt von den Menschen hinweg und auf sich zu übertragen, sich so als den allgemeinen Sündenträger und Sündenbüßer, der keine Sünde begangen, aber doch alle Sünden abzahlen will, der strengen, unerbittlichen Gerechtigkeit Gottes auszuliefern, und noch überdies unendliche Gnaden und Verdienste für die Menschen zu sammeln und ihnen bis zum Ende der Welt anzubieten, so dass alle, die nur wahrhaft wollen, wirklich ohne Strafe davonkommen und vor Gottes gerechtem Richterstuhl die ewige Seligkeit zugesprochen erlangen können. Sein Verhältnis zur strafenden Gerechtigkeit Gottes und zu den strafbaren Menschen liegt für sein ganzes Leben und Sterben ausgesprochen in den Worten, welche er zu den Häschern auf dem Ölberg gesprochen, als sie ihn zum Tode aufsuchten: "Ich bin Jesus von Nazareth; wenn ihr also mich suchet, so lasset diese gehen" (Joh. 18, 8), ohne sie zu behelligen. Jede Tat, jedes Gebet Jesu Christi sprach die gleichen Worte zur göttlichen Gerechtigkeit: Ich bin derjenige, welcher alle Sünden von den Menschen hinweggenommen und auf sich selbst gelegt hat. Wenn du also denjenigen suchest, den du der Sünden wegen züchtigen willst, si nimm mich hin und liefere mich den Kreuzigern aus; aber diese da, die Menschen, lass nicht bloß ohne Strafe ausgehen, sondern zahle auch ihnen aus die unendliche Belohnung jener Verdienste, die ich erwerbe und ihnen schenke.
Siehe also, welch ein unendliches Übel die Sünde ist. Alle Menschen und alle Engel wären nicht imstande gewesen, auch nur für die erste Sünde des Adams eine hinreichende Genugtuung zu leisten. Und hätte noch tausend neue Himmel geschaffen, voll Engel, deren geringster schon viel höher gestanden wäre, als jetzt der oberste Seraph, so wären auch diese alle miteinander nicht imstande gewesen, eine solche Genugtuung zu vollbringen. Der Sohn Gottes selber kam. Und beachte wohl, mit welcher Strenge ihn die göttliche Gerechtigkeit behandelt! Da er König des Himmels und der Erde ist, hätte er nicht sollen im herrlichsten aller Paläste der Welt geboren werden? Und siehe, nicht einmal im geringsten Winkel des ärmsten Hauses findet er eine Stätte; von Haus zu Haus fragen Maria und Joseph bittend herum, und von Haus zu Haus werden sie abgewiesen und hinausgesperrt in die lange, kalte Winternacht; nur bei den Tieren im Stall kann der Herr eintreten in die Welt! -
Wird sonst ein Königskind geboren, so kommen die Glückwünsche und Ehrengeschenke von allen Seiten. Für Jesus aber regt sich der König Herodes bloß, um die Mörder auszusenden, auf dass sie ihn töten. Kamen die Diener Gottes in Gefahr, so hat Gott oft Wunder gewirkt zu ihrem Schutze, oft wunderbare und augenblickliche Bestrafung ihrer Verfolger. Aber für seinen göttlichen Sohn erlaubt er den Legionen Engeln nicht, ihn zu verteidigen; fliehen muss das göttliche Kindlein auf dem Arme seiner bedrängten Mutter, heimlich, eiligst in der Nacht, ins ferne Heidenland, durch eine weite, schreckliche Wüste, unter den schwersten Mühseligkeiten und Gefahren!
Und blicke hin in die Wüste, wo er fastet. Dem Propheten Elias, dem heiligen Einsiedler Paulus hat er gleich durch einen Raben das tägliche Brot gesandt; dem Daniel in der Löwengrube hat er durch ein Wunder, das aus vielen anderen Wundern zusammengesetzt war, die nötige Nahrung verschafft; als die Volksscharen ihm in die Einöde folgten, wirkte er wiederholt die erstaunlichsten Wunder der Brotvermehrung in seiner Sorgfalt gegen die Notleidenden. Nun, da er selbst in der Wüste schon zehn Tage lang ohne den geringsten Bissen gefastet, bringt kein Rabe ihm Brot; und da er schon zwanzig Tage lang nichts verkostet, kommt kein Engel mit Nahrung; und als er schon dreißig Tage ohne jede Erquickung zugebracht, wendet er seine Wundermacht noch nicht an, sich einen Bissen zu verschaffen; noch weitere zehn Tage lang soll er nichts verkosten, als ob die göttliche Gerechtigkeit eifersüchtig Wache hielte, auf dass ihm, und gerade nur ihm, kein Bissen der Erquickung zukommen sollte.
Und Jesus auf dem Ölberg! In jedem Augenblick seinem ganzen Leben hatte er die Ehre seines himmlischen Vaters unendlich gefördert; nun schwebt ihm sein Leiden vor, wie die Feinde seine eigene Ehre auf das entsetzlichste beschimpfen und ihn, zum allgemeinen Gespötte da hängend zwischen Verbrechern, zu Tode martern wollen, und zuvor sollte er noch schmählich misshandelt, schrecklich gegeißelt, schmerzlich mit Dornen gekrönt werden. Darüber entsetzt sich die schwache Menschennatur, er fällt in Demut auf sein Angesicht hin und bittet den Vater, und bittet ihn wieder und wieder, dass dieser bittere Leidenskelch vorübergehen möchte; und der blutige Angstschweiss dringt aus allen Poren und rinnt selbst durch die Kleider auf den Boden; so erkauft er sich selbst durch die Opfer seines Blutes die Erhörung - nein! er wird nicht erhört; der Verräter kommt, die Mörder fallen über ihn her, die göttliche Gerechtigkeit liefert ihn denselben aus, sie schleppen ihn zur Marter, zum Tode!
Und Jesus an der Geisselungssäule! Es war auf das strengste verboten, einem Menschen bei der Geisselstrafe mehr als vierzig Schläge zu geben; und damit man ganz sicher wäre, die Zahl von vierzig nicht zu überschreiten, war angeordnet, niemals mehr als 39 zu erteilen. So hatte es Gott selbst angeordnet - zu Gunsten der Übeltäter; aber für Jesus wird auch dieses mildere Gesetz nicht eingehalten. Nicht bloß vierzig Schläge, nicht bloß vierhundert - in die tausend und tausend Geisselstreiche erhält der Herr; so hatte es die göttliche Gerechtigkeit gefügt, nur durch ein Wunder erhielt sie ihn am Leben, damit er noch längere und größere Peinen ertragen könnte!
Und blick hinauf zum Kalvarienberg! Dort steht das Kreuz und Jesus blutet, daran genagelt. Der brennendste Durst verzehrt seine Eingeweide, die einzelnen Teile seines Lebens, welche die Peiniger durch ihre blutige Grausamkeit nicht erreicht hatten. Und die Qual des Durstes wird grösser und unerträglicher, der Herr bittet endlich: "Mich dürstet." Er hatte alle Quellen und Flüsse, und alle Seen und Meere erschaffen, Wasser in unerschöpflichem Überfluss für alle Menschen und Tiere und Pflanzen. Für sich möchte er auch einen Trunk, wenigstens einen Tropfen! Und um diesen bittet er so innig, sein Leben hängt davon ab, erhält er den Tropfen nicht, so verschmachtet er! Aber nein, er bekommt ihn nicht! keinen Trunk! keinen Tropfen klaren Wassers! Man verwundert sich, dass jene Henker und Mörder unter dem Kreuze ihm nicht ein wenig laberndes Wasser gebracht, aber man kann diese Grausamkeit doch begreifen. Aber - und das ist ein erstaunliches Geheimnis! aber es steht ja auch Magdalena, auch Johannes, selbst seine Mutter Maria unter dem Kreuze und hören ihn um einen Tropfen Wasser bitten, und sie würden eher bis ans Ende der Welt gegangen und durch tausend abwehrende Waffen hindurchgedrungen sein, als ihn unerhört verschmachten zu lassen! aber nein! sie haben kein Wasser, sie stillen seinen Durst nicht, er muss verschmachten! Die göttliche Gerechtigkeit hat es so gefügt, dass ihm diese einfache Erquickung nicht geworden ist!
Verlassen ist er also von allen! von den Tausenden, die er selbst durch Wunder geheilt oder von dem Tode erweckt hat, verlassen auch von seinen Aposteln, sie sind geflohen; und seine Mutter steht da und hört ihn bitten; umsonst, sie kann und darf nicht helfen. Und die Engel des Himmels alle, von denen selbst jedem Verbrecher einer beigegeben ist zum Schutze, keiner leistet ihm eine Hilfe. Der himmlische Vater ist noch übrig, er liebt seinen göttlichen Sohn mit unendlicher Liebe; wird er ihn also in seiner Sterbensnot nicht wenigstens innerlich auf das liebevollste erquicken? Nicht im geringsten! Der himmlische Vater zieht jede Spur irgend einer Erleichterung oder Tröstung vollkommen von ihm zurück! Und diese Pein ist die grösste unter allen, da ruft der Herr aus dem tiefsten Grunde seines Herzens, dass alle Himmel erzittern: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!" Alle haben ihn verlassen, die ihm helfen wollten und sollten, alle haben sich herbeigedrängt, die ihn peinigen und martern wollten, und von diesen gepeinigt, von jenen verlassen - senkt er sein Haupt und stirbt. Die göttliche Gerechtigkeit hatte beharrlich jede innere oder äussere Erquickung ferne gehalten und allen Peinigern freien Spielraum gelassen. Ja, was noch viel erstaunlicher, die göttliche Barmherzigkeit hat zu all dem ihre Zustimmung gegeben!
Warum? wegen der Sünde; weil die Sünde ein unendliches Übel ist, so konnte sie auch nur durch unendliche Peinen gesühnt werden. Aber nun, o Sünder, bedenke! wenn die göttliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit die Sünde selbst am Sohne Gottes, der die Sünde nicht zur Beleidigung und Entehrung Gottes, begangen, sondern zu Gottes Ehre getilgt hat, mit solcher Strafe gezüchtigt, welch ein unendliches Übel muss sie also an jenem sein, der sie begeht! Ein so grosses Übel ist deine Sünde, dass Gott selbst sie nicht auf eine leichtere Weise gut machte und sühnte. Blick hinauf zu diesem göttlichen Leichnam am Kreuze! Dieser Jesus ist wahrer Gott und Mensch, er ist dein Freund durch zahllose Liebesbeweise, er ist dein Bruder, er ist dein Vater, er ist dein König, dein Gott. Und durch die Todsünde hast du ihn gemordet. Wahrhaftig, die Todsünde ist Menschenmord, Freundesmord, Brudermord, Vatermord, Königsmord, Gottesmord! Das ist die Sünde!
Nur keine Sünde, lieber Christ, nur keine Todsünde! Denn sie ist das grösste Übel wegen der furchtbaren Beleidigung, die man Gott damit zufügt. Durch sie beleidigt man Gott den Vater, indem man die Kindschaft Gottes, die uns in der heiligen Taufe zuteil geworden ist, missbraucht. Durch sie beleidigt man Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes, indem man sein Blut mit Füßen tritt und die Frucht seines bitteren Leidens und Sterbens vereitelt. Durch sie beleidigt man den Heiligen Geist, indem man die Seele, diesen Tempel des Heiligen Geistes, dem Satan zur Wohnung überlässt. - Durch sie wird man gleichsam ein Gottesmörder, d.h. der Sünder raubt Gott dem Herrrn das Dasein in seiner Seele; er lässt ihn sterben in seinem Innern, sodass man mit Wahrheit sagen kann: Das Herz des Sünders ist das Grab Gottes. "Entsetzt euch darüber, ihr Himmel!" ruft der Prophet Jeremias aus. (Jer. 2, 12.)
Der heilige Chrysostomus schreibt: "Viele glauben, dass die ewige Verdammnis das letzte und grösste Übel sei; ich aber glaube und werde fortwährend lehren, dass es ein viel grösseres Übel sei, Jesum zu beleidigen, als in den höllischen Flammen gequält zu werden." - Deshalb pflegte die fromme Blanca, zu ihrem Sohne dem heiligen Ludwig, täglich zu sagen: "Erinnere dich stets, mein Sohn, dass es in der Welt kein Unglück geben kann, als bloß die Sünde, und lieber wollte ich dich jetzt gleich, ungeachtet meiner grenzenlosen Zärtlichkeit zu dir, tot auf einer Bahre ausgestreckt liegen sehen, als jemals erfahren zu müssen, dass du dieses Unglück gefallen seiest." - Darum nur keine Sünde, lieber Christ, nur keine Todsünde!
(entnommen aus: Das dreifache Reich Gottes, von Joseph Reiter, 1911)