- Gottes enge Pforte -

   
   
   
   
   (entnommen aus: Michael gegen Luzifer, von Hans Eduard Hengstenberg, 1946)
   
   

   Was ist nun das Zielbild des Deutschen, zu dem wir uns im gemeinsamen Ringen durchfinden müssen, wenn wir das preußisch-idealistische Ideal ausmerzen? Es wäre vermessen, die Gedanken Gottes mit dem deutschen Volke erraten zu wollen. Wir glauben aber, daß sich doch etwas sagen läßt über die Berufung, der wir als Deutsche dienen sollen, wenn auch das letzte Ziel der deutschen Geschichte, wie das der Geschichte überhaupt, in Gott verborgen ist.

   

   Wir können zu diesem Zeilbilde nur beitragen, wenn wir uns wieder darauf besinnen, daß das deutsche Volk im Mittelalter den Erzengel Michael zu seinem Schutzpatron erkoren hat.

   

   Michael ist der Engel der Entscheidung. Sein Ruf "Wer ist wie Gott" stürzte den sich gegen Gott empörenden Luzifer aus dem Himmel. Und tatsächlich gehört dies: die Völker zur Entscheidung aufzurufen, zu den besonderen geistigen Aufgaben, die das deutsche Volk unter anderen zu erfüllen hat. Mag es dieser Aufgabe im Laufe der neuzeitlichen Geschichte untreu geworden sein, es kann selbst in der Verfehlung, im Abfall von Gott seine ursprüngliche Aufgabe nicht verleugnen. Die Art seines Abfalls und die Weisen seines Verlaufes sind noch von der ursprünglichen Sendung her geprägt.

   

   Zunächst ist wesentlich, daß das deutsche Volk im Mittelalter Träger des Reichsgedankens war, der ein Gedanke der Gottesherrschaft war. Das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation" ist im letzten ein übernatürlich geprägter Begriff, nicht weniger als die alte Kaiseridee. Das deutsche Volk lieh sein Schwert für die Gottesherrschaft auf Erden und konnte nur in diesem Dienste seinen Sinn finden. Bei aller Unvollkommenheit, die wir in der mittelalterlichen Geschichte in dem Verhältnis von Kaisertum und Papsttum finden, war doch die Grundhaltung des deutschen Schwertes damals eine michaelische: den Völkern zuzurufen: "Wer ist wie Gott!"

   

   Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verfiel, der Kaisergedanke wurde verweltlicht. Und doch konnte das deutsche Volk zur Zeit der ohnmächtigen Zersplitterung, als sich eine neue Idee um Brandenburg-Preußen (fast wie eine Krebszelle) im Ganzen auszudehnen begann, seine Gabe, zur Entscheidung zu rufen, nicht zudecken; so mißtönig dieser Ruf auch erklang, so sehr dies "Entweder-Oder", da es nicht mehr aus der Fülle und Ganzheit des corpus Christi kam, an Stelle der Entscheidung die Scheidung und Trennung hervorrief. Die Reformation ist nichts anderes als solch ein Ruf. An sich ist ein Ruf zur Reformation ein Ruf zur Entscheidung. Die Kirche soll gereinigt werden von allem verunehrenden Ballast, von allem, was "Nicht Kirche" im eigentlichen Sinne ist. Eine Reformation wäre an sich wohl eine Aufgabe gewesen, die der von Gottes Vorsehung bestimmten Sendung des deutschen Volkes entsprochen hätte. Aber es fewhlte den Reformatoren vielleicht an Demut. Wir wollen es Gott überlassen, zu urteilen. Zweifellos aber war die Reformation im Gesamtschicksal des deutschen Volkes ein Punkt der Entscheidung, von dem ab sich das luziferische Element, als Gegenspieler des michaelischen, immer mehr zu Wort meldete.

   

   Dieses Luziferische weist indirekt auf das Michaelische hin. Das ist auch die Situation der Entscheidung: Wer zu michaelischem Tun berufen ist und an mangelnder Demut scheidert, kann nur  auf die Seite Luzifers geraten. Ein Drittes gibt es nicht. Michael oder Luzifer - diese Entscheidung war dem deutschen Volke selbst gestellt, dem Volke der Entscheidung. Es wurde von seinem eigenen Zielbild gerichtet. Noch darin, daß sein Abfall nur im luziferischen Charakter in luziferischen Weisen geschehen konnte, beweist das deutsche Volk indirekt noch einmal, daß es eine michaelische Bestimmung hatte.

   

   Es ist gar nicht abzusehen, was an Gnade hätte erwachsen können, wenn Luther katholisch geblieben wäre, wenn er sich in Demut darauf beschränkt hätte, nur das wirklich Faule an der damaligen Kirche zu brandmarken und um dieser Aufgabe willen zum echten Märtyrer in der Kirche zu werden.

   

   Die Lehre des Protestantismus ist selbst eine überspitzte Lehre von der Entscheidung. Entweder du glaubst, oder du glaubst nicht. Etwas Drittes gibt es nicht. Diese Entscheidung kam nun aber in Gefahr, absolut gesetzt zu werden. In letzter Konsequenz käme es nur noch auf den Glauben an, den abstrakten Glauben ohne Liebe, ohne Sein, ohne heiligende Kraft. Das wäre ein "Michael", der seinen Entscheidungsruf absolut setzte. Daß es nur auf den nackten, "rein geistigen" Glauben ankäme, wäre eine Lehre, die nur aus dem Absinken aus einer michaelischen Geisteswelt entstehen könnte, in diesem Absinken einen luziferischen Trotz aufnehmend. Michael und Luzifer sind beide "aus dem gleichen Stoff" gemacht, sie trennt nur die verschiedene Entscheidung. Der Protestantismus wurde oft Trotzhaltung, er nahm seine Stütze aus der negativen Haltung, "nicht römisch" sein zu wollen.

   

   Noch da, wo sie irrt, gibt die protestantische Glaubenslehre ein michaelisches Anliegen kund. Was die Reformatoren wollten, das war ja eigentlich dies: den Menschen schonungslos abhängig zu erklären von Gott, die völlige Auslieferung an die "Gnade" Gottes. Ein michaelisches Anliegen, das aber anders endete, weil von Anfang an das Maß der Demut nicht erfüllt war.

   

   Der Protestantismus ist eine spezifisch deutsche Angelegenheit.

   

   Wenn die Reformatoren nicht "protestierende" Protestanten geworden wären, sie hätten eine unvergleichliche Aufgabe in der christlichen Theologie leisten können, die wir als Katholiken erst nach Jahrhunderten tastend und nachschleppend vollziehen können: das personale Moment der Gnade und Rechtfertigung zu betonen, das persönlich einmalige Verhältnis des Menschen zu Gott, und die Theologie vor einer Erstarrung in bloßer "Seinslehre" zu bewahren. Der Protestantismus ruft gegen die falsche Sicherheit der "Glücklich Besitzenden", die den Himmel nach Gesetz und Zahl der Werke sicher zu erklimmen glauben. Auch das ist ein michaelisches Anliegen.

   

   Der Umschlag vom Michaelischen zum Luziferischen im deutschen Geistesleben tut sich besonders im Idealismus kund. Der deutsche Idealismus macht den Menschen autonom durch "reine Geistigkeit". Die ganze Welt ist nun Produkt der Geistesmacht, die Gott ersetzt, Gott vom Throne stürzt. Indem der Idealismus, wie Luzifer einst, die Welt mit Beschlag belegt - als Fürst dieser Welt - ist er zum Prediger Luzifers geworden. Die entwirklichte Welt kann nun dem Menschen nicht mehr zum natürlichen Aufstieg zu Gott dienen (die Gottesbeweise fallen), der Mensch ist im luziferischen Netz der Begriffe eingefangen. Die reine Geistigkeit des Idealismus bekundet den luziferischen Willen, zu sein wie Gott. Es ist der Engel in Lichtgestalt.

   

   Die Massendämonie im äußeren Lebensraum, war ein weiterer Fortschritt auf dem Wege des Luziferischen. Am Ende steht der Nationalsozialismus. Er will an Stelle Gottes sogar Herr des Gewissens sein. Er ist alles andere eher als ein plumper Materialismus. Geht es ihn doch um verworfene geistige Ziele: Menschen zu formen nach seinem Bilde mit einem neuen Glauben. Die erstrebte physische Macht ist nur Mittel zur Ausübung einer geistigen Macht über die Seelen. Man will bestimmen, was "Wahrheit" ist. Die materiellen Symbole wie Rasse, Blut und Boden sind nur äußere Stützpunkte zu einem "Paradies", wo sich jeder nach Befehl der Führerschicht glücklich zu fühlen hat; zu einer scheinhaften Unendlichkeit, an die jeder nach Vorschrift glauben muß. Dieses Reich des Scheins ist mit luziferisch-geistigen Kräften aufgebaut. Es ist die letzte konsequente Auswirkung des idealistischen Wunsches, die Welt vom Geiste her in den Griff zu bekommen. Der vom Geiste entworfene Schein ist das Zielbild.

   

   Noch in der Entartung muß der Nationalsozialismus unbewußt dem schicksalhaften Auftrag folgen, zur Entscheidung aufzurufen. Er setzte allen Völkern in Europa die Pistole auf die Brust: "Erkläre dich zum Feigling oder wehre dich!" Er zwang zur Entscheidung.

   

   Noch in der modernen deutschen Philosophie, die gewollt oder ungewollt im Fahrwasser des Idealismus schwimmt (so sehr sie sich auch gegen ihn wehrt), merken wir dieses Grundprinzip: zur Entscheidung aufzurufen. Entweder  (kollektives) "Manselbst" oder  eigentliches, heroisch vor dem Nichts aushaltendes "Selbst" zu sein, ist der Ruf Martin Heideggers; entweder in der Immanenz der Welt stecken zu bleiben, oder sich der Transzendenz zu öffnen und vor ihr das Selbstsein zurückzuempfangen, ist die Devise von Karl Jaspers. Beide "Existentialphilosophen" bauen ihre Philosophie vom Ruf der Entscheidung her auf. Dieses Gestelltsein "auf des Messers Schneide" ist typisch für diese Philosophie. Nur werden sie den idealistisch-luziferischen Pferdefuß nicht los: diese Entscheidung wird von einem autonomen Ich vollzogen, und die ganze Welt soll in ihrem Sein von diesem sich entscheidenden Ich her erklärt werden. Die Welt ist entwirklicht.

   

   Kein Volk verträgt die Loslösung vom Christentum schlechter als das deutsche. Wie verhältnismäßig glimpflich ist z. B. das französische Volk mit seiner berühmten Revolution davongekommen, in der die Vernunft zur Gottheit erhoben wurde! Gewiß traten gewaltige Schäden ein, nicht aber das innere Zerschnittensein, wie es im deutschen Volke durch seine Fehlentscheidungen immer eintrat. Die französische Revolution war eigentlich keine Entscheidung im deutschen Sinne, sondern ein bloßes Überbordwerfen dessen, was früher verehrt war. Dieses Überbordwerfen kam nicht vom Michaelischen her und war auch deshalb nicht so luziferisch. Die Vernunft ist ja an sich nichts, was Gott widerspricht. Durch konsequente, evolutionistische Weiterentwicklung konnte man schließlich wieder an den Punkt kommen, wo die Vernunft mit Gott verbindet. Tatsächlich gab es in Frankreich bekanntlich ein allmähliches Wiedergewinnen von christlichem Boden durch die führenden geistigen Schichten.

   

   Das französische Volk ist kein Volk der Entscheidung wie wir, sondern ein Volk des Verstehens, des Ausgleichs, der Harmonie, des Maßes (freilich auch oft des sterilen "Mittelmaßes" und der Bürgerlichkeit). Alles, was es im Geistigen gibt, in einer freundlichen Revue zu vereinen und zum Austausch und Gleichgewicht zu bringen, ist das Zielbild des französischen Volkes. Schriftsteller haben schon darauf hingewiesen, daß Frankreich durch einen weiblichen Zug gekennzeichnet ist, im Gegensatz zu dem Männlichen im deutschen Habitus. In der Tat ist das Verstehen eine weibliche Funktion, die Entscheidung eine typisch männliche. Das "Alles oder nichts" ist eine kennzeichnend deutsche Haltung. Es gibt wohl kaum zwei Völker in der Welt, die bei ruhigem Abwägen und bei christlichem Besinnen auf ihr jeweiliges Zielbild besser zusammen passen würden als Ergänzung als das deutsche und französische.

   

   Kein Volk verträgt die Entartung in Imperialismus so schlecht wie das deutsche. Es gibt Völker, die sich berufen fühlen, die Welt im machtmäßigen Sinne zu verwalten (und diese Berufung vielleicht auch haben) und die in diesem Zielbild jahrhundertelang blühen können. Bei Deutschen wäre dieses Zielbild grausames Mißverständnis und Lächerlichkeit. Was kann es Widernatürlicheres geben, als wenn ein Volk, das den Auftrag hat, der Welt michaelisch zuzurufen "Wer ist wie Gott" und das so zur guten Entscheidung aufzurufen bestimmt ist, wenn ein solches Volk von seinem geistigen Auftrage absinkt und die Welt im machtmäßigen Sinne zu beherrschen sucht, so, daß diese Macht Selbstzweck ist. Nur ein Volk mit ursprünglich michaelischer Berufung kann weltliche Macht so mißverstehen, fehlanwenden und mißbrauchen, wie es im deutschen, besonders in den vergangenen zwölf Jahren geschehen ist.

   

   Das Schicksal des deutschen Volkes ist vom Mittelalter her unlöslich mit dem Schicksal der römisch-katholischen Kirche verbunden. Es kann diesem Schicksal nicht entfliehen. Wie wir uns in der letzten Zeit einer gereinigten und vertieften Auffassung der Kirche, des corpus Christi, zubewegten, indem wir den weltlichen Machtanspruch der Kirche immer mehr verringert sahen, so muß auch - in Schicksalsverbundenheit mit der Kirche - das Zielbild des deutschen Volkes immer mehr vom mißverstandenen Imperialismus gereinigt werden. Das deutsche Volk, das sich auf sein wahres michaelisches Urbild zurückbesinnt, muß wieder in besonderem Sinne Bereiter für das Reich Christi sein. Kirche als Lebensgemeinschaft muß im deutschen Raume erwachsen, wie es sonst an keinem Orte der Welt so möglich wäre. Das Zielbild der neuen christlichen Persönlichkeit soll hier - wenn auch zunächst nur von wenigen - vorgelebt werden.

   

   Das Leben des deutschen Volkes hängt wie bei keinem anderen vom Verstehen seiner christlichen Sendung ab. Bereits Görres weist unseres Wissens darauf hin, daß Deutschland schon in seiner landschaftlichen und volklichen Gegensätzlichkeit zwischen Nord und Süd einerseits, Ost und West andererseits, durch das Kreuz gezeichnet ist. Wir sollten ein büßendes und sühnendes Volk werden; zunächst für die eigenen Sünden, dann aber auch zum Heile der ganzen Welt. Bei uns fällt die Entscheidung über den Weg des Christentums in Europa. Wir sind das Volk der Entscheidung. Mögen andere Völker daraus Lehre und Nutzen ziehen.

   

   Das deutsche Volk, das seinem michaelischen Urbilde wieder folgt, wird in Buße und Sühne, die dem gesamten Abendlande frommen, vorangehen müssen und im Namen der anderen Völker seine herben Opfer zu Gott emporheben. Unsere vorausgehenden Betrachtungen legten uns ja bereits den Gedanken nahe, daß das deutsche Volk in der Wiederaufrichtung aus der allgemeinen Seinsentwürdigung des abendländischen Menschen eine besondere Sendung habe. Daß dieser Weg der Sühne marianisch geprägt sein müsse, in Gehorsam gegenüber den Weisungen, die die Mutter Gottes uns gerade für die heutige Zeit gibt.

   

   In der Tat hat die deutsche Theologie der Welt etwas Besonderes zu sagen. Unsere Theologen haben alle Probleme an der vordersten Front durchgetragen. Wir nennen jetzt nur einen großen Namen Scheeben. Scheeben ist Vorkämpfer für eine immer stärker werdende personale Auffassung der Gnade. Wir möchten von einem "personalen Realismus" im Hinblick auf das Übernatürliche reden. Die sogenannte "unerschaffene Gnade" gewinnt an Bedeutung. Wir erlangen in der Gotteskindschaft nicht nur einen übernatürlich erhöhten Seinszustand, sondern die göttlichen Personen geben sich je in ihrer persönlichen Eigenart der Seele selbst zum Geschenk. Daß diese Art der Verbundenheit nichts Nachträgliches ist und nicht nur "moralisch" zu verstehen, daß diese "bräutliche Verbundenheit" der Seele mit Gott unlöslich mit unserer seinsmäßigen Erhebung in der Gotteskindschaft verbunden ist, das ist eine Lehre, die gerade in der letzten Zeit von deutschen Theologen in Nachfolge Scheebens in besonderer Weise herausgearbeitet wurde.

   

   Eines muß noch einmal zum Abschluß und zur Klarheit gesagt werden. Wir können unsere Geschichte, auch seit der Reformation, nicht ungeschehen machen. Der Protestantismus hat eine Trennung im Volke, freilich nicht ohne Mitschuld des Katholizismus, hervorgerufen. Wir müssen diesen Sachverhalt anerkennen. Wir können nicht so tun, als bestünde er nicht. Wir müssen uns daher vor unrealistischen, scheinhaften Annäherungen der Konfessionen bewahren. (p.A. man beachte die Wörter "unrealistisch und scheinhaft"! Das heißt nicht, dass keine Annäherungen stattfinden dürfen. Ich möchte das erwähnen, nicht dass es heißt, ich wäre eine '#*°^&'-Person, weil ich diesen Artikel schreibe, bzw. wiedergebe.) Nur so verwahren wir uns gegen einen verwaschenen Liberalismus, der ein "Volk der Entscheidung" zugrunde richten müßte. Andere Völker mögen vom Liberalismus weniger gefährdet werden. Was für andere erträglich ist, ist es noch lange nicht für uns.

   

   Diese Klarheit hindert nicht die christliche Liebe zwischen den Vertretern beider Konfessionen. Im praktischen Leben werden ja oft die Übereinstimmungen größer sein als die Verschiedenheiten, gerade im gemeinsamen Gegensatz zu allen Formen des Liberalismus. Gerade weil der Protestantismus eine typisch deutsche Angelegenheit ist und aus dem michaelischen Anliegen eines "Volkes der Entscheidung" erwuchs, wird er auch dem deutschen Katholiken etwas zu sagen haben, ihn zumindest etwas angehen. Und wenn wir wohl nicht daran vorbeikommen, von einer protestantischen Gesamtschuld im deutschen Volke zu reden, so verkennen wir nie, daß dem auch eine Schuld von uns Katholiken entspricht. Und selbst, wenn es nicht so wäre, müßten wir dessen ungeachtet bereit sein, für die Schuld der Brüder mitzusühnen. Wir sollen als Katholiken zur Entscheidung aufrufen, aber nicht zur Entscheidung zwingen oder überreden wollen. Wir wollen eine saubere konfessionelle Scheidung nicht in eine "gegenreformatorische" Herabsetzung und propagandistische Überfremdung der Andersgläubigen entarten lassen.

   

   In Zukunft wird noch mehr als früher im deutschen Lebensraum der Wahlspruch für das öffentliche Leben gelten: daß Vertreter verschiedenen Glaubens und überhaupt verschiedener Weltanschauung zusammen an gemeinsamem Werke arbeiten müssen, wo die Glaubensüberzeugung des einzelnen unveräußerliche und unvermischte Kraftquelle, der Gegenstand der Bemühung aber für alle gemeinsam da ist, die guten Willens mitarbeiten wollen.

   

   Diese Richtung auf das "Allgemeine" der gemeinsamen öffentlichen Aufgabe und des öffentlichen Wohles bei Achtung des persönlichen Glaubensfundamentes im anderen ist auch gerade katholische (allgemeine) Haltung, nicht aber ein Konfessionalismus im Sinne des Ghettos. Bildung, Erziehung und Reifung des jungen Menschen müssen ganz im katholischen Raume erfolgen, aber die Bewährung muß geschehen in der Öffentlichkeit, wo Menschen verschiedener Weltanschauung im edlen Wettstreit die Tragfähigkeit dieser ihrer Weltanschauung im gemeinsamen Werk beweisen können.

   

   

   Der Realismus als Grundhaltung künftiger Bildung

   Wir hatten uns die Aufgabe gestellt, aufzuzeigen, wie Persönlichkeit und Gemeinschaft in der abendländischen Gesellschaft und im deutschen Lebensraum insbesondere durch Einkehr, Buße und Sühne aus der Verfallenheit zu neuer lebendiger Gestalt gelangen können. Es handelte sich um die Zielausrichtung des deutschen Volkes im Herzen Europas. Nach Überwindung des preußisch-idealistischen Ideals muß es zu einer neuen Gesamtvorstellung von sich selbst durchdringen, die vom Vorbild des Schutzpatrons St. Michael geprägt ist.

   Wir können bei diesen grundsätzlichen Erörterungen nicht Einzelheiten eines Bildungsprogramms geben. Nur das eine soll abschließend betont werden: ein nüchternes, realistisches Denken muß das vom Idealismus ausgegangene Scheindenken ablösen. Wir sahen ja, daß die Herrschaft der Massendämonie letztlich die Herrschaft des Scheines, des Truges, der Aufgeblasenheit bedeutet. Die Nüchternheit ist daher die erste Grundbedingung für die Gesundung. Wir setzen das Petruswort an den Schluß: "Seid nüchtern und wachsam, denn euer Widersacher, der Satan geht einher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge." (1. Petr. 5,8). Damit ist gesagt, daß der Mangel an Nüchternheit dem Satan die Gelegenheit gibt, zuzupacken, daß Nüchternheit umgekehrt die Waffe gegen den Dämon ist.

   

   Nüchternheit besagt nicht Dürftigkeit und Trockenheit, sondern nur dies: daß wir die Wirklichkeit zu sehen gewillt sind, wie sie tatsächlich ist, ohne Fälschung und Trübung durch unser subjektives Wünschen. Daß wir wieder das vorbehaltlose kindliche Aufgeschlossensein gegenüber allen Bereichen der Wirklichkeit gewinnen, das ist Nüchternheit, heilige Nüchternheit, die aus Ehrfurcht erwächst und in Ehrfurcht Früchte hervorbringt.

   Eine dreifache heilige Nüchternheit.

   

    

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