Die Werke des Gotteskindes

Der Gerechte empfängt durch die Wiedergeburt die Kräfte zu einem neuen Leben. Dieses Leben wird im einzelnen beschrieben in der katholischen Sittenlehre. Wir wollen deshalb an dieser Stelle nur die allgemeinsten Grundzüge dieses neuen Lebens im Anschluß an den heiligen Augustinus darstellen. Für die Sittenlehre kommt es darauf an, daß ihre Vorschriften nicht in eine unabsehbare Menge von einzelnen Sätzen zerlegt werden, sondern daß man einen Punkt sucht, von dem man wie von hoher Warte herab das Ganze überschauen und jede Einzelvorschrift auf ihren Sinn und ihre Bedeutung für das Ganze prüfen kann. Die älteste Zeit hat es nicht versucht, die Sittenlehre wissenschaftlich darzustellen, d. h. die Gebote und Verbote in eine feste Ordnung zu bringen und wissenschaftlich zu begründen. Man hatte eine Fülle von Regeln aus dem Alten Testament, dem Neuen Testament und dem geltenden Kirchenrecht. Dabei hatte schon Jesus das ganze Gesetz und die Propheten zusammengefaßt in die Forderung der Gottes- und Nächstenliebe. Auch bei den Aposteln finden wir kurze zusammenfassende Formulierungen der christlichen Forderungen. Sie verlangen Überwindung der Sünde und Übung des Guten, das Absterben des alten Menschen und das Anziehen Christi, des neuen Menschen (Eph. 4,22), das Ablegen der Werke der Finsternis und den Wandel im Lichte (Röm. 13,12 f.). Augustinus knüpft an das Hauptgebot der Liebe an. Gewiß finden wir das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe überall bei der Aufstellung der sittlichen Forderungen. Aber es ist etwas anderes, ob man eine Formel einfach gebraucht neben vielen anderen, und etwas anderes, was man aus ihr macht, und wie man es versteht. Augustinus hat mit überlegener Beherrschung aller philosophischen und theologischen Zusammenhänge uns in das Verständnis dafür eingeführt, was es heißt, Gott und den Nächsten zu lieben.
1. Die Liebe ist die Grundkraft der Seele und darum die Grundkraft alles sittlichen Lebens. Gut wird der Mensch, wenn er Gutes liebt, schlecht, wenn er Schlechtes liebt. "Die Liebe kann nicht tatenlos sein; denn was bewirkt im Menschen auch das Schlechte? Nichts anderes als die Liebe. Zeige mir doch eine Liebe, die feiert und nichts wirkt! Schändlichkeiten, Ehebrüche, Morde, Verbrechen, alle Ausschweifungen wirkt die Liebe. Reinige also deine Liebe, lenke das Wasser, das in die Kloake fließt, zum Garten hin; laß die Strömung, die auf die Welt geht, sich auf den Schöpfer der Welt richten! Sagt man euch: Liebet nichts? Das sei ferne; ihr würdet träge, tot, verächtlich, elend sein, wenn ihr nichts liebtet." "Liebet also, aber sehet zu, was ihr liebt! Die Liebe zu Gott und zu dem Nächsten heißt wahre Liebe oder Caritas, die Liebe zur Welt heißt Begierde. Die Begierde werde gezügelt, die Liebe aber angefacht".
Auch die Tugend ist nichts anderes als Liebe zu dem, was geliebt werden soll. Die vier Kardinaltugenden heißen Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, Gerechtigkeit. Sie sind nur verschiedene Formen der Liebe. Klugheit heißt jene Liebe, die uns zwischen Gut und Bös unterscheiden lehrt, die uns zeigt, was zu Gott hinführt und was von Gott wegführt. Die Gerechtigkeit will jedem das Seine geben. Sie ist jene Liebe, die vor allem Gott dient, weil wir ihm alles verdanken, die aber auch keinem Geschöpfe, das uns dient, etwas schuldig bleiben will.
Die Mäßigung ist jene Liebe, durch die wir die Lüste zügeln. Sie ist Gottesliebe, insofern sie den Menschen rein und ganz für Gott erhalten will. Die Tapferkeit ist jene Liebe, durch die wir in allen Widerwärtigkeiten standhalten. Sie ist Gottesliebe, insofern sie alles gern für Gott erträgt. Diese Tugenden sind also nichts anderes als verschiedene Stimmungen der Liebe. Denn wahre Tugend ist Liebe zu dem, was geliebt werden muß. Die Klugheit wählt es aus, die Tapferkeit läßt sich durch Hindernisse und Beschwerden nicht von ihm trennen, die Mäßigung nicht durch sinnliche Reize, die Gerechtigkeit nicht durch Hochmut.
Weil die Liebe zu Gott, dem höchsten Gute, das Entscheidende im religiösen Leben ist, sagt Augustinus, daß die Liebe die Grundlage aller Gerechtigkeit ist. "Anfangende Liebe ist anfangende Gerechtigkeit, fortschreitende Liebe ist Fortschritt in der Gerechtigkeit, fortschreitende Liebe ist Fortschritt in der Gerechtigkeit und vollkommene Liebe ist vollkommene Gerechtigkeit."
2. Die Liebe zu Gott ist nicht möglich ohne die Gnade Gottes. Gott ist deshalb nicht nur Gegenstand der Liebe, sondern auch ihr Urheber: "Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist." Ohne die Gnade würde im Menschen die Selbstsucht herrschen. So ist denn das ganze Leben des Christen ein Kampf zwischer heiliger Liebe und Selbstsucht, nicht nur bei den einzelnen, sondern in der ganzen Weltgeschichte. Aus der Liebe erwuchsen zwei Staaten oder zwei große Gemeinwesen, der Gottesstaat und der Weltstaat. Im Gottesstaat sind alle vereinigt, die Gott lieben bis zur Verachtung ihrer selbst, d. h. die sich ihrer vollkommenen Abhängigkeit von Gott bewußt sind und deshalb alles, was sie besitzen, als ein Geschenk Gottes betrachten. In dem Weltstaat sind alle zusammen, die sich selbst lieben bis zur Verachtung Gottes, die sich also regieren lassen von der Selbstsucht ohne Rücksicht auf Gottes Gebot. Die Guten im Gottesstaat werden von ihnen verfolgt, sie wandern unter den Tröstungen Gottes und den Verfolgungen der Welt der ewigen Heimat zu.
3. Die Liebe entfaltet sich in vielen Akten. Das erste in der Liebe ist Freude und Danksagung. Der Mensch kann Gott zwar nicht schauen, er sieht aber Gottes Werke in Natur und Geschichte, er sieht seine Spuren in der Schönheit der Welt; die ganze Schöpfung ist ihm eine Stufenleiter zu Gott: "Siehe, Himmel und Erde und alles, was in ihnen ist, ruft mir von allen Seiten zu, daß ich dich lieben soll! Unaufhörlich rufen sie es allen zu, so daß sie keine Entschuldigung haben (Röm. 1,20)." Er sieht Gottes Werke zum Heile des Menschengeschlechtes, die Erlösung, die Heiligung in der Kirche, und jubelt: "Was soll ich dem Herrn vergelten für alles, was er getan?"
Das zweite, was aus der Gottesliebe folgt, ist die Nächstenliebe, ja, die Liebe zu allen Geschöpfen. Wir alle sind ja Kinder desselben Vaters. Wir alle sind durch Christus erlöst und zur ewigen Seligkeit bestimmt.
Unsere Nächstenliebe kommt aus dankbarem Herzen. Max Scheler sagt einmal das tiefe Wort, daß im Christentum die Liebe eine Umkehr erfahren habe. Das Heidentum kannte nur die begehrliche Liebe; der Mensch will haben, besitzen und glücklich werden. Das Christentum aber lehrt die sich selbst verschenkende und sich selbst opfernde Liebe. Weil wir in Christus reich geworden sind, die Nachlassung der Sünden und die Hoffnung ewigen Lebens erlangt haben, wenden wir uns in Dankbarkeit zu den Mitmenschen. Gott können wir ja nichts schenken; deshalb beschenken wir die armen inder Gottes, die unserer Liebe bedürftig sind.
Die Nächstenliebe darf nicht einseitig religiös gedacht werden als Gebet für die Bekehrung oder dieewige Seligkeit des Nächsten, als Eifer, einen Sünder für Christus zu gewinnen, sondern sie muß den ganzen Menschen mit Leib und Seele umfassen; denn der Mensch ist nicht nur Geist, sondern auch Leib. Deshalb müssen wir auch seinen Leib lieben und ihm Gutes tun, wenn er unser bedarf.
Die Nächstenliebe ist auch nicht nur Mitleid, wie Schopenhauer meinte. Nach Augustinus is es so, daß die Liebe nicht aufhört, wenn auch Armut und Not schwinden und damit das Mitleid aus der Welt geht. Er wünscht, es gäbe überhaupt keine Armen, dann wäre unsere Liebe reiner und besser; denn der Reiche, der einem Amen etwas gibt, wird leicht hochmütig; wenn er aber seine Hilfe einem Menschen schenken kann, der ihm gleichgestellt ist, dann wird die Liebe reiner und freier und schöner.
Das dritte, was aus der Gottesliebe folgt, ist die richtige Einstellung zu allen Kulturwerten. Solche Kulturgüter sind:
a) der Leib mit allen sinen Kräften,
b) die geistigen Güter, Kunst und Wissenschaft,
c) die sozialen Güter, Familie, Staat, Gesellschaft,
d) die Wirtschaftlichen Werte, Vermögen und Arbeit.
Augustinus lehrt uns, daß wir sie nicht hassen oder verachten dürfen, denn sie sind ja Geschenke Gottes. Wir dürfen sie aber nicht um ihrer selbst willen als höchste Güter suchen, weil sie vergängliche Werte sind. Vom Standpunkt der Religion aus ist die Arbeit an ihnen das Mittel, um die ewig Krone zu verdienen. Wer diese Güter recht gebraucht, wird eingehen in die Freude seines Herrn. Der richtige Gebrauch der Weltdinge ist freilich nicht leicht; denn wir liebe sie oft mit allzugroßer Anhänglichkeit. Deshalb müssen wir unsere Liebe ordnen, wir müssen insoweitauf Genuß und Gebrauch dieser Güter verzichten, als uns Gott Schranken gesetzt hat. Daraus ergibt sich die Enthaltsamkeit oder die Pflicht der Selbstzucht.
Augustinus sagt in der Regel, daß wir die Welt benutzen, aber nicht genießen dürfen. Gelegentlich sagt er auch, daß wir sie lieben dürfen, aber nicht als unsere Heimat; wir dürfen sie lieben, wie der Wanderer eine Herberge liebt, wo er bleiben kann, um sich auszuruhen; wie er Speise und Trank liebt, die ihn erquicken, damit er rüstiger und kräftiger der Heimat zuwandern kann.
Augustinus ist durch seine Gedanken der Schöpfung einer Kulturethik geworden. An und für sich könnte der Christ ja den Weltdingen und Weltordungen vollkommen feindlich gegenüberstehen. Er könnte sie fliehen, um sich in die Einsamkeit oder in ein Kloster zurückzuziehen, weil die Beschäftigung mit der Welt Gefahren für die Seele birgt. Augustinus aber hat eine andere Stellung zu den Dingen der Welt. Die Ordnungen der Welt sind Gottes Wille, die Dinge der Welt sind Gottes Schöpfungen; deshalb darf die Ehe nicht als sündig verdammt werden, sondern muß mit christlichem Geiste erfüllt werden. Der Staat darf nicht einzig auf Selbstsucht aufgebaut werden, sondern er muß nach Gottes Willen geordnet werden.
In unseren heutigen Katechismen wird die Sittenlehre in der Regel dargestellt im Anschluß an die Zehn Gebote. Das ist verhältnismäßig jung; denn es geschieht erst seit dem 14. Jahrhundert aus Gründen der Praxis. Im Anschluß an die Zehn Gebote schien es leichter zu sein, das Gewissen vor der Beichte zu erforschen. Die Zehn Gebote werden ausgelegt im Sinne des Neuen Testamentes, also das fünfte Gebot nicht nur als Verbot des Tötens, sondern auch als Verbot alles dessen, was zum Töten führt: Zorn, Haß, Neid, Zank, im Anschluß an das Wort der Bergpredigt: "Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gerichte verfallen" (Matth. 5,22).
Diese Beichtspiegel werden in die ersten Katechismen nach Erfindung der Buchdruckerkunst aufgenommen. Vor dem 14. Jahrhundert hatte man die sittlichen Belehrungen vielfach angeknüpft an die sieben Hauptsünden: Hoffart, Geiz, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Neid, Zorn, Trägheit. Die Darstellung des heiligen Augustinus, die alles unter den Begriff der Gottes- und Nächstenliebe gruppiert, findet man fast nur in wissenschaftlichen Büchern.
In der Tat ist diese Darstellung auch mit gewissen Schwierigkeiten belastet; denn was man unter Nächstenliebe versteht, ist jedem ohne weiteres klar, was aber die Gottesliebe ist, das weiß nicht jeder. Es gibt Menschen, die nicht wissen, wie sie es anfangen sollen, Gott zu lieben. Sie fragen sich: Wie kann man überhaupt eine Empfindung haben gegenüber dieser unsichtbaren Macht, wie kann eine solche Empfindung gar befohlen werden? Es sind nicht immer die Schlechtesten, die so sprechen und die das Wort Liebe nicht anzuwenden wagen auf jene erhabene Macht, die unser Leben trägt.
Man fragt sich: Wie kommt man überhaupt zur Liebe Gottes? Grundlage und Voraussetzung ist der Glaube an eine höhere Macht, an ihr Wirken in Natur und Geschichte. Aus dem Glauben erhebt sich das Vertrauen, daß diese höhere Macht nur unser Bestes will. Wo dieses Vertrauen nicht vorhanden ist, da wird der Appell an die Gottesliebe unverständlich bleiben; aber wo es vorhanden ist, da schließt es den Willen ein, das ganze Leben in Gottes Hände zu legen, ihm die Lebensschickungen anzuempfehlen, seinen Forderungen oder Geboten unbedingten Gehorsam zu leisten. Wo dieses Ja zu Gottes Willen gesagt wird, da ist die Gottesliebe vorhanden. So besteht denn das christliche Leben aus drei Dingen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Der Glaube ist das Fundament, die Liebe die Krönung und Vollendung.
Es ist für die Entwicklung der christlichen Sittenlehre von höchster Bedeutung, daß dieses Doppelgebot dem Christentum gegeben wurde, und daß es von genialen Geistern wie Augustinus so herrlich ausgelegt wurde. Immer wieder wird dieses Doppelgebot für den einzelnen der Prüfstein sein müssen, ob seine Religion sich verirrt hat und auf einen falschen Weg geraten ist. Es gibt Menschen, bei denen das rein Religiöse, der Eifer für Kirche und Sakramente, die Liebe verdeckt; es gibt andere, die die Nächstenliebe allein als das ganze Wesen der christlichen Religion ansehen. Wer aber ein wahrer Jünger Jesu sein will, der muß wissen, daß Humanität oder Nächstenliebe wurzeln muß in der Liebe zum himmlischen Vater, der uns alle zu Brüdern gemacht hat durch die Schöpfung und erst recht durch die Erlösung. Christliches Leben im Vollsinne kann deshalb nur Gottes- und Nächstenliebe sein.
(entnommen aus: Die Lehre der Kirche, von Professor Dr. Johannes Peter Junglas, Imprimatur 1936)