Das christliche Tugendleben
Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, sagt der heilige Apostel Petrus, und was folgert er daraus? dieses - "darum sollt ihr die Tugenden dessen verkünden, der euch aus der Finsternis zu seinem wahren Lichte berufen hat". - Merken wir uns: die Tugenden dessen sollen wir verkünden, der uns aus der Finsternis zu seinem Licht berufen hat, dann sind wir heilig, wie der heilig ist, der uns berufen hat. Und diese Heiligkeit, die in der Kundgebung aller christlichen Tugenden besteht, darf keinen Menschen fehlen, der auf die Würde eines wahren Christen Anspruch machen will. Leider wird von sehr Wenigen auf die Erwerbung und Ausübung der Tugenden hinreichende Rücksicht genommen; gewöhnlich ist man mit sich schon wohl zufrieden, wenn man sich keine Vorwürfe über bedeutende Fehltritte zu machen hat; als ob der Christ keine andere Aufgabe hätte, als sich vom Bösen zu enthalten, und keine schwere Sünde zu begehen! "Was tue ich denn Böses?" hört man manchen sagen; "aber was tust du denn Gutes?" frage ich dich. Du begehst keine schwere Sünde, du bist selbst wegen der lässlichen Sünden besorgt, aber übst du dich in der Tugend, in jeder Tugend? Und wie weit hast du es schon in der Tugendhaftigkeit gebracht? zu welcher Reinheit und Vollkommenheit in der christlichen Tugendhaftigkeit bist du schon emporgestiegen? Es ist nicht genug, das Böse zu meiden, man muss auch das Gute tun. Unser Wandel vor Gott muss nicht nur so geschaffen sein, dass er ihm nicht missfalle, sondern auch so, dass er ihm gefalle. So sagt Jesus Christus: "Ein Baum, der keine guten Früchte bringt, wird ausgehauen und in das Feuer geworfen." Er sagt nicht: ein Baum, der schlechte Früchte bringt ... auch nicht: ein Baum, der keine Früchte bringt; denn von einem solchen Baum versteht es sich von selbst, dass er ausgehauen wird; sondern er sagt: "Ein Baum, der keine guten Früchte bringt, wird ausgehauen und in das Feuer geworfen." Und diese guten Früchte, welche der Herr von uns verlangt, sind die Tugenden, wodurch wir unseren Wandel vor ihm wohlgefällig machen müssen.
Was ist denn überhaupt Tugend? Diese Frage müssen wir uns vor allem beantworten, ehe wir zur Betrachtung der Tugenden selbst schreiten.
Im Leben nennt man oft die Tauglichkeit eines Wesens zu seiner Bestimmung Tugend, und in diesem Sinne nennt man oft auch gewisse Eigenschaften eines Tieres Tugenden. So sagt man z.B.: Dieses Pferd hat diese und jene Tugenden: man will damit sagen: Es ist tauglich zu diesem und jenem Geschäft; auch gewisse Eigenschaften des Gemütes, welche den Menschen zu gewissen nützlichen Handlungen antreiben, nennt man Tugenden, z.B. die Herzhaftigkeit, den Mut; oder gewisse natürliche Anlagen, z.B. die Munterkeit, die Fröhlichkeit, auch diese heißen Tugenden. Dieses sind erworbene, angeborene oder natürliche Fähigkeiten oder Eigenschaften, die jemand an sich hat. Man versteht darunter also eine Eigenschaft, eine Gewohnheit. So viel geht nun aus der verschiedenen Anwendung des Wortes Tugend hervor, dass man darunter eine gewisse Tauglichkeit, eine gewisse erworbene Fertigkeit in einer Sache, eine Gewohnheit, eine Leichtigkeit, etwas zu tun, versteht. Von einer solchen Tauglichkeit oder Fertigkeit zu irgend einer natürlichen Handlung ist aber in unseren Betrachtung keine Rede. Wir haben es hier mit sittlichen, religiösen Eigenschaften zu tun, welche ein Christ, und zwar als ein Gläubiger Jesu Christi, als ein Auserwählter des Herrn haben soll.
Die Tugend, als eine sittliche Eigenschaft, ist eine Fertigkeit, das Gute und Wahre zu erkennen, zu wollen und zu tun. Aber auch das allein wäre noch nicht christliche Tugend; denn in diesem Sinne hatten auch die Heiden Tugenden, in diesem Sinne waren auch die Heiden tugendhaft. Sie hatten nämlich das Sittengesetz, welches ihnen die Vernunft und das Gewissen gegeben hatte; wenn sie nun, durch ihre Vernunft belehrt und durch ihr Gewissen angetrieben, aus Achtung gegen dieses Sittengesetz, mäßig, keusch, gerecht, friedfertig, treu, gehorsam, mildtätig gegen die Armen, versöhnlich gegen ihre Feinde waren, so übten sie eben so viele Tugenden, sie waren tugendhaft, je mehr oder weniger sie das Gute, welches sie erkannten, aus Achtung des Guten ausübten. Allein dieses sittliche Handeln aus bloßem Antrieb der Vernunft und des natürlichen Gewissens ist keine Tugend, keine Tugendhaftigkeit, welche Gott wohlgefällig ist zum ewigen Leben; eine solche bloß natürliche Tugend mag ihren Lohn hier finden, aber sie ist nicht verdienstlich für den Himmel. Das ist sehr wichtig, lieber Christ! denn man hört nun hin und wieder die Äußerung: "Wenn ich nur einen rechtschaffenen Mann mache, das ist genug." Das ist nicht genug, sage ich, und wenn du auch unter deiner Rechtschaffenheit alle Tugenden verstehst, welche dem Sittengesetz der Vernunft gemäß sind; denn ich weise dir tausend Heiden auf, welche nach deinem Sinne rechtschaffene Menschen waren, waren sie darum auch vor Gott gerechtfertigte Menschen? waren sie Erben des ewigen Lebens? "Der Gerechte lebt aus dem Glauben", sagt der Apostel; zu jener Tugend, die vor Gott gilt zum ewigen Leben, gehört also mehr als das bloße Handeln aus Achtung gegen das Vernunftgesetz. Jesus drückt sich hierüber so aus: "Wenn ihr nur das tut, was die Heiden tun, was ist das Grosses?" "Wenn eure Gerechtigkeit nicht grösser ist, als die der Pharisäer, so taugt ihr nicht in das Reich Gottes."
Zu der Tugend, die vor Gott gilt zum ewigen Leben, gehört also vor allem der Glaube an Jesum Christum und die Beziehung aller Gesinnung und aller Handlung auf den durch Jesum Christum geoffenbarten Willen Gottes. Das ist die christliche Tugend. Was ist die christliche Tugend? Die christliche Tugend ist die Fertigkeit, die Vernunftgesetze und alle von Jesus Christus geoffenbarten Sittenvorschriften als Gebote Gottes aus Ehrfurcht, Liebe und Gehorsam gegen Gott zu befolgen. Ich fasse das noch kürzer zusammen: Die christliche Tugend ist die Fertigkeit, das Wahre und Gute aus Liebe zu Gott und im gläubigen Gehorsam gegen Jesus Christus zu erkennen, zu wollen und zu tun.
Die christliche Tugend ist eine Fertigkeit. Merke wohl: eine Fertigkeit! Eine Fertigkeit setzt aber nicht nur die eine oder andere gute Handlung voraus, sondern eine Leichtigkeit, eine Gewohnheit, eine Beständigkeit im Guten. Wenn du also sagen willst, du habest diese oder jene Tugend, so muss es dich leicht ankommen, diese gute Handlung allezeit und bei jeder Gelegenheit auszuüben; du musst dazu allezeit geschickt und fertig sein; es muss dir schon zur Gewohnheit geworden sein, dieses oder jenes Gute zu tun, so und so zu handeln. Sagst du, du seiest tugendhaft, so musst du das Gute nicht etwa nur ein und das anderemal zun, nicht etwa nur heute und morgen, sondern alle Tage, alle Stunden, so oft sich eine Gelegenheit bietet.
Die Tugend ist eine Fertigkeit, das Gute und Wahre zu erkennen, zu wollen und zu tun. Alle diese drei Dinge müssen bei einander sein: Das Erkennen, das Wollen, das Tun. O wie vielen mangelt schon das allererste Stück, welches zur christlichen Tugend gehört, das Erkennen des Wahren und Guten! Sie kennen nicht mal das Gute, welches sie tun, die Wahrheit, in der sie Gott dienen sollen. Weisst du z.B., was die göttliche Tugend des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe ist, was diese Tugenden alles in sich fassen, in welchen Übungen sie bestehen? Weisst du, was die christliche Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut und Mäßigung, was die Demut, die Sanftmut, die Geduld, die Gottesfurcht ist, und was alles dazu gehört, um diese Tugenden zu besitzen? Und was ist bei den meisten die Ursache ihrer Unkenntnis? Ihre Trägheit im Guten, ihre Gleichgültigkeit gegen das Gute. Sind diese tugendhaft? Nein, nicht im mindesten; denn ein tugendhafter Christ liebt das Gute, er bestrebt sich, das, was gut, was eine Tugend ist, kennen zu lernen, er hört gerne davon reden, lässt sich willig darin unterrichten. Aber die Kenntnis des Guten selbst reicht noch nicht hin, dass man die Tugend besitze, man muss das Gute, das Tugendhafte auch wollen. o viele kennen das Gute, sie wissen es gleich, was gut und recht ist; aber sie haben keine Freude daran, ihr Wille ist zum Guten nicht geneigt, sie haben kein Verlangen danach! Und gesetzt auch, man kennt und will das Gute, so ist das noch nicht genug, man muss es auch tun; denn: "Nicht ein jeder, der sagt: 'Herr, Herr', wird in das Himmelreich eingehen, sondern der, welcher den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird eingehen."
Die Tugend ist also eine Fertigkeit, das Gute zu erkennen, zu wollen und zu tun aus Liebe zu Gott und im gläubigen Gehorsam gegen Jesus Christus, und diese Gesinnung macht erst die Tugend zur Tugend, zur christlichen Tugend, die vor Gott gilt zum ewigen Leben. Man kann tugendhaft scheinen, ohne dass man es wirklich ist. Es gibt z.B. Menschen, die von Natur aus eine gute Anlage zur Tugend haben, sie sin eingezogen im Reden, sie sind sanftmütig in ihrem Benehmen, sie sind friedfertig und geduldig, aber sie sind es vermöge eines ihnen angeborenen Temperamentes, sie haben von Natur aus keine Neigung zum Zorn, zur Ungeduld, zum Unfrieden. Sind diese im wirklichen Sinne tugendhaft? Nein, sie sind es noch nicht, weil sie von Natur aus eine solche gutmütige Beschaffenheit haben; sie sind es erst dann, wenn sie sanftmütig, demütig, geduldig, friedfertig sind aus Liebe zu Gott, aus gläubigem Gehorsam gegen Jesus Christus, wenn sie bei ihrer Sanftmut, Demut, Geduld, Friedfertigkeit keine andere Absicht haben, als Gott wohlzugefallen, und den Glauben an Jesum durch eine Handlungsweise an den Tag zu legen, welche den Lehren des Evangeliums angemessen ist. Wieder andere Menschen gibt es, die keusch bescheiden, langmütig, gehorsam sind, aber sie sind es aus natürlichen Gründen, aus Rücksichten, welche ihre Verhältnisse erfordern, aus Absichten, welche sie auf zeitliche Vorteile haben, sie sind es der Ehre, des öffentlichen Anstandes wegen - sind diese tugendhaft? Sie sind natürlich gut geartet, sie sind anständig, sie sind gebildet, aber ihr Benehmen ist noch keine christliche Tugend; zur christlichen Tugend gehört notwendig, dass das gute aus Liebe zu Gott, aus Gehorsam gegen seinen Willen, aus dem Glauben an Jesum geschehe.
(entnommen aus: Das dreifache Reich Gottes, von Joseph Reiter, Imprimatur 1911)