Sibirische Tragödie
Im Kampf um das unschätzbare Gut der Freiheit hat sich jene schreckliche sibirische Tragödie ereignet.
1919 versuchte der russische Admiral Koltschak, sich über Sibirien zum Pazifik durchzuschlagen, eine Entfernung von 8000 km. Er hatte 1917/18 ein Heer gegen die Bolschewisten aufgestellt, mit dem er 1919 über den Ural vordrang mit dem Ziel, die bolschewistische Herrschaft zu beseitigen. Sein Unternehmen scheiterte. Er wurde zum Rückzug nach dem Osten gezwungen.
Sein zurückweichende Armee zählte 500 000 Mann. In ihrem Gefolge befanden sich 750 000 Flüchtlinge, darunter 25 Bischöfe, 12 000 Priester, 4000 Mönche, 45 000 Mann Polizei, mehr als 200 000 Frauen der russischen Aristokratie und viele Kinder jeden Alters.
Als diese große Karawane ihren Rückmarsch begann, setzte der sibirische Winter mit einer Heftigkeit ein, die selbst den ältesten Einwohnern Sibiriens ungewohnt war. Das Thermometer sank auf minus 50 Grad Celsius. Unvorstellbare Eis- und Schneestürme setzten darauf ein. Bald war die Heerstraße mit Massen erfrorener Menschen und Pferde übersät, die der Schnee sogleich mit einem mächtigen Leichentuch überdeckte... Was noch nicht erfroren war, drängte durch Schneestürme weiter. Noch waren es Hunderttausende, unter deren schleppenden Schritten der Schnee knirschte. Aber überall lauerte der weiße Tod. Wer sich einen Augenblick zur Ruhe niederließ, wurde in einen weißen Schlaf eingehüllt, aus dem es meist kein Erwachen mehr gab. Immer tiefer sank das Thermometer. Die Augenflüssigkeit gefror. An den Augenlidern bildeten sich Eiszapfen. Die Lippen rissen auf. Erfrorene Ohren fielen ab. Das Elend schrie zum Himmel. Damals erfroren in der Nähe der Stadt Novo Nikolajewsk in einer einzigen Nacht zweihunderttausend Menschen.
Der Rest des Zuges - 250 000 Menschen von 1 250 000 - erreichte Ende Februar den Baikalsee. Jenseits des Sees winkte die Freiheit. Man entschloß sich zu dem Wagnis, ihn zu überqueren. 80 km glatten Eises mußten überwunden werden. Zu einer Themperatur von 58 Grad C gesellten sich Eisstürme, die den Leidenden das Mark in den Knochen erstarren ließen. Gegen solchen Frost half kein Bären- und kein Seehundsfell. Jeden Tag erfroren Tausende und Abertausende. Unbeschreibliche Tragödien spielten sich ab auf der gleißenden Eisfläche des Riesensees. Dort, wo Kinder geboren wurden, erfroren Mutter und Kind zugleich. Kaum eine Seele überlebte die Wanderung über den See. Die Stimme eines Mannes, wahrscheinlich eines Mönches, der als einer der letzten starb, klang schaurig-mahnend über diesen unendlichen Friedhof aus Eis: "Betet zu Gott, daß er die Herzen der Menschheit wandle!"
Es war die letzte Stimme von 1 250 000 Menschen! Der Rest war totes, geisterhaftes Schweigen... Die 250 000 Leichname blieben dort liegen, wo sie hinfielen, bis zum folgenden Sommer. Dann schmolz das 2 1/2 Meter dicke Eis und die toten Körper sanken in die Tiefe. Dort ruhen sie noch heute, jene Menschen, die sich vor dem Bolschewismus in Sicherheit bringen wollten und die an ein Leben in Freiheit geglaubt hatten.
Noch gewährt uns der Herrgott die Gnade eines Lebens in Freiheit. Bedienen wir uns dieses Gottesgeschenkes in christlicher Weise?
Wird der Materialismus unser Untergang sein? In Hirschers "Selbsttäuschungen" heißt es: "Nichts ist allgemeiner als das Haften der Seele am Erwerb und Besitz, und nichts kommt zugleich weniger ins Bewußtsein als eben dieses Hängen und Haften. Der Mensch kümmert und sorgt, er sinnt und denkt, überlistet und beschwatzt, lügt und beteuert, zürnt und hadert, und all dies im Dienste des Habtriebes - aber er hat sich so tief in das Zeitliche hineinverloren, daß er es gar nicht merkt... Es ist etwas anderes, zu sorgen und zu arbeiten, und etwas anderes, in diesem Sorgen und Arbeiten aufzugehen. Aber gerade die, welche hierin aufgehen, merken es nicht, und zwar eben deshalb, weil sie darin aufgehen."
Was haben wir in unserer unersättlichen Lebensgier aus unseren christlichen Hochfesten gemacht? Zu einem heidnischen Freudenrummel haben wir sie degradiert, ihrer Erhabenheit entkleidet, in den Dienst schnöder Profitmacherei gestellt und ihren eigentlichen Sinn verschüttet. An solchen Tagen gilt die Hauptsorge einer möglichst raffiniert zusammengestellten Mahlzeit und einer unangebrachten Ausgelassenheit. Mit Tam-Tam leiten wir sie ein, während es Tage der Stille, der Besinnung und der Einkehr sein sollten. Wir treiben Verrat an Christus!
Und wie steht es mit unserer Sonntagsheiligung? Ist der Sonntag für uns noch Tag des Herrn? Der Tag der Ruhe und der Sammlung, der bewußten Hinwendung auf das allein Notwendige? Der Tag, an dem wir unsere Vorsätze für die kommende Woche ins Auge fassen, an dem wir in dem tröstlichen Bewußtsein unserer Gotteskindschaft ein- und untertauchen wie in einem erquickenden Bade, um in der Kraft der Sakramente und des Gebetes den Kampf mit dem Alltag aufzunehmen und in christlicher Weise zu meistern?
Meist weiß man ein Gut erst dann zu schätzen, wenn es verloren ist. So ist es auch mit dem Kostbarsten, was wir haben: dem hl. Meßopfer. Oft bietet sich uns die Gelegenheit zu seinem Besuch. Es bedarf nur der geringsten Anstrengung, sich zur Kirche zu begeben.
Ist es nicht eine merkwürdige Tatsache, daß der Mensch von heute, der in der ständigen Angst vor einem Atomkrieg lebt, einer direkten Verheißung Gottes, die ihm den Frieden garantiert, Ohr und Herz verschließt? Hier wird uns der Friede, dieses herrliche Gottesgeschenk, in Aussicht gestellt, also genau jenes hohe Gut, das wir mit allen Mitteln zu erstreben suchen, ohne es zu erlangen. Und dennoch! Es ist, als wären wir blind und taub und hätten keine Aufnahmefähigkeit mehr für das, was nicht von dieser Erde ist. Oder ist diese Blindheit und Taubheit bereits das Anfangsstadium jener furchtbaren Züchtigung, die wir durch unsere unchristliche Lebensweise zwangsweise herbeirufen? Soll auch uns das Schriftwort gelten: "... damit sie sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen und so gerettet werden?" Es ist unserem Belieben anheimgestellt, zu wählen zwischen Frieden und Krieg. "Wenn sie die Forderungen nicht erfüllen, werden schwere Heimsuchungen über sie kommen. Rußland wird seine Irrtümer über die ganze Welt verbreiten, es wird Kriege entfesseln, viele Gläubige werden gemartert werden, der Hl. Vater wird schwer unter den Verfolgungen der Kirche zu leiden haben; ganze Nationen werden vernichtet werden." Soweit die Botschaft ... 1917, als diese Prophezeiungen niedergeschrieben wurden, wußte noch kein Mensch etwas von einer Atom- oder Wasserstoffbombe oder ähnlichen Massenvernichtungsmitteln und ihrer mörderischen Wirkung.
Unsere heilige Mutter, die Kirche, hat uns allen ein seltenes Gnadenangebot unterbreitet. Im 37. Eucharistischen Weltkongreß sind wir geheißen, eine gründliche Erneuerung unseres inneren Menschen vorzunehmen, ihn in Wahrheit umzukehren, umzukrempeln, - eine radikale Generalsäuberungsaktion an uns selbst durchzuführen, d. h. mit eisernem Besen jede Art von Unrat hinauszufegen, um so dem König der Könige eine würdige Wohnung zu bereiten. Alle Stände und Berufe, Frauen und Männer, Kinder und Greise müssen den Himmel bestürmen: "Aus Tiefen schreien wir zu Dir. Ein reines Herz und einen reinen Geist erschaffe in uns, o Herr!"
Geist Gottes, Heiliger Geist, breite deine Schwingen über alle, die da herbeiströmen "vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergange"! Laß Dich in Feuerzungen herab auf die deiner Offenbarung harrende Riesengemeinde, die berufen ist, "das Angesicht der Erde zu erneuern!" Laß uns in Deiner Gotteskraft alle wie ein unüberrennbares Bollwerk stehen, an dem der Ansturm der höllischen Geister aus der Unter- und Oberwelt zuschanden wird. Zerschmettere Du die teuflische Macht derer, die Böses sinnen, der Seelenverderber, die Völker knechten, die Freiheit erwürgen und den Höllenbrand des Gotteshasses schüren! Wenn Du mit uns bist, wer könnte dann wider uns sein?
Laßt uns die Verdienste Christi immerfort dem Vater darbieten. Es gibt nichts, was er uns daraufhin verweigern oder vorenthalten würde. Laßt uns dabei nicht nur an uns selbst denken und an unsere kleinen Wünsche, laßt uns vielmehr die weltweite Not dieser von satanischen Mächten durcheinandergewirbelten Menschheit klaren Auges sehen und brennenden Herzens hintragen vor Gottes Angesicht, damit er schlichte und heile, rette und segne und sich unser aller erbarme, der Lämmlein, die ihm folgen, wohin immer er geht, wie der störrischen Böcke, die an gefährlichen Abgründen weiden und erst recht der reißenden Wölfe, die, getarnt und ungetarnt auf der Lauer liegen. Was uns unmöglich scheint, bei Gott ist es möglich: daß die unvereinbaren Gegensätze, die diese Welt in feindliche Lager spalten, eines Tages aufhören zu sein und daß die eine Herde unter dem einen Hirten werde, die Christus im Geiste erschaut und vom Vater erfleht hat.
"Glaubt nur und es wird geschehen!" Wann es sein wird, das liegt im Geheimnis des Vaters begründet. Er allein kennt die Zeit und weiß die Stunde. An uns ist es, im Vertrauen zu wirken, zu beten, zu arbeiten, zu leiden, zu opfern, in Treue hingegeben zu bleiben an Christus bis zum letzten Atemzug. Keine von all unseren Anstrengungen wird je verloren gehen. Jeder gute Gedanke, jede ehrliche Mühe für das Reich Gottes wird Frucht bringen, wenn die Stunde dazu gekommen ist. Christus wird sie in Ströme von Gnade verwandeln und hinfließen lassen über die gnadenlose Welt, wenn die Zeit dafür reif ist. Gott denkt in Jahrtausenden, und er gibt seiner Welt Zeit in Fülle, ihr Heil zu wirken. Sein Herz verlangt auch nach den verlorenen Schafen, die in der Irre wandern, wie nach den Suchenden, die seinen Lockruf noch nicht vernahmen. Er rechnet mit der tätigen Mitarbeit der Seinen, damit sich die Werke seiner Barmherzigkeit erfüllen, denn von der Barmherzigkeit Gottes und der Menschen lebt unsere Welt.
