- Gottes enge Pforte -

   Der Turm der Kirche
   
   
   nach Hildegard von Bingen
   
   

   Darauf sah ich jenseits der genannten Säule der Menschheit des Erlösers einen Turm von überaus hellem Glanz. Er war so auf die erwähnte Steinmauer an der Südseite aufgesetzt, daß man ihn sowohl innerhalb als auch außerhalb dieses Gebäudes sehen konnte. Sein Durchmesser betrug an der Innenseite überall gewiß fünf Ellen, seine Höhe aber war so ungeheuerlich, daß ich sie nicht ausmachen konnte.

   

   Zwischen diesem Turm und der Säule der Menschheit des Erlösers jedoch war nur das Fundament gelegt und noch keine Mauer darauf gebaut; es zeigte sich nur eine ellenlange unterbrochene freie Stelle, wie auch oben schon angedeutet wurde. Und dieser Turmbau war noch nicht ganz vollendet. Sehr geschickt und schnell bauten zahlreiche Werkleute unermüdlich daran; ringsum an seiner Spitze waren sieben wunderbar starke Schutzwehren errichtet. Von der Innenseite des besagten Gebäudes sah ich etwas wie eine Leiter bis an die Spitze dieses Turmes angelegt und auf ihren Sprossen standen von unten bis oben eine Menge Menschen mit feurigem Antlitz, weißem Gewand, aber schwarzen Schuhen. Einige von ihnen hatten zwar das gleiche Aussehen, waren aber größer und strahlender und blickten sehr aufmerksam auf den Turm.

   

   Dann sah ich an der Nordseite dieses Gebäudes die Welt und die Menschen, welche aus dem Samen Adams hervorgehen. Sie liefen zwischen der erwähnten Lichtmauer dieses Gebäudes - der spekulativen Erkenntnis - und dem Schein des Lichtkreises, der sich von dem Thronenden ergoß, hin und her. Viele von ihnen betraten durch die erwähnte Mauer der spekulativen Erkenntnis zwischen dem Turm des göttlichen Ratschlusses und der Säule seines göttlichen Wortes dieses Gebäude, gingen hindurch und verließen es wieder, wie sich eine Wolke dahin und dorthin verzieht. Die aber dieses Gebäude betraten, wurden in einem blendendweißen Gewand bekleidet. Die einen frohlockten in großer Freude über dieses angenehme und anschmiegsame Gewand und behielten es an, die anderen aber wollten es, gleichsam traurig über seine Last und Mühsal, ausziehen. Die Tugend, welche ich früher Gotteserkenntnis nennen gehört hatte, beschwichtigte sie öfter gütig und sprach zu jedem von ihnen: 'Betrachte und bewahre das Gewand, mit dem du bekleidet bist.'

   

   Und ich nahm war, daß manche von ihnen - durch diese Worte zurechtgewiesen - obzwar ihnen dieses Gewand beschwerlich vorkam, es dennoch mit großer Anstrengung anbehielten; einige jedoch spotteten über diese Worte, zogen das Gewand wütend aus, warfen es weg und kehrten in die Welt zurück, woher sie gekommen waren. Sie erforschten viele Dinge und lernten viel unnütze weltliche Eitelkeit kennen. Schließlich kehrten einige davon in das Gebäude zurück, nahmen das abgeworfene Gewand wieder an sich und zogen es an. Die andern aber wollten nicht zurückkehren und blieben, seiner beraubt, in Schande in der Welt zurück.

   

   Und ich sah, wie einige, voller Schmutz und pechschwarz, wie vom Wahnsinn angetrieben, von Nordosten herankamen und auf dieses Gebäude anstürmten. Sie fielen rasend über den Turm her und zischten gegen ihn wie Schlangen. Einige von ihnen aber ließen von dieser Torheit ab und wurden rein, während andere auf dieser Bosheit und in ihrem Schmutz verharrten.

   

   Ich sah jedoch innerhalb dieses Gebäudes gegenüber dem Turm auch etwas wie sieben weiße Marmorsäulen stehen. Sie waren wunderbar rund gedrechselt und sieben Ellen hoch und trugen auf ihrer Spitze eine eiserne runde Galerie, die anmutig ein wenig oben darüber hinausragte. Am obersten Ende dieser Galerie sah ich eine überaus schöne Gestalt stehen, die auf die Menschen in der Welt blickte. Ihr Haupt strahlte einen so starken Glanz wie ein Blitz aus, daß ich es nicht vollständig betrachten konnte. Sie hatte die Hände ehrerbietig über der Brust gefaltet, während ihre Füße hinter der Galerie für meinen Blick verborgen blieben. Auf dem Haupt aber trug sie einen kronenförmigen, von hellem Schein strahlenden Reif. Sie war aber auch mit einer goldfarbenen Tunika angetan. Darin lief von der Brust bis zu den Füßen herab ein Streifen. Er war mit dem Schmuck von kostbarsten Edelsteinen, nämlich von grüner, weißer, roter und himmelblauer, von Purpurglanz schimmernder Farbe geziert.

   

   Und sie rief den Menschen, die in der Welt waren, zu und sagte:
   
   1. Die Worte der Weisheit
   

   'O ihr Trägen, warum kommt ihr nicht? Wird euch nicht Hilfe zuteil, wenn ihr kommen wollt? Beginnt ihr den Weg Gottes zu laufen, ist euch das Surren von Mücken und Fliegen lästig. Nehmt doch den Fächer der Eingebung des Heiligen Geistes und verscheucht sie immer wieder von euch. Ihr müßt laufen und Gott wird euch auch helfen. Bietet euch Gott nicht heuchlerisch zum Dienst an und ihr werdet von seiner Hand gestärkt.'

   

   Doch auf dem Pflaster dieses Gebäudes sah ich drei weitere Gestalten. Die eine von ihnen lehnte sich an die erwähnten Säulen an und die beiden anderen standen nebeneinander vor ihr. Alle wandten sich der Säule der Menschheit des Erlösers und dem besagten Turm zu. Die sich aber an die Säule lehnte, erschien so umfangreich, daß fünf Menschen zusammen ihre Breite ergeben könnten. Sie war jedoch so riesig groß, daß ich ihre Höhe nicht ganz zu ermessen vermochte; sie schaute nämlich über dieses ganze Gebäude hinweg. Auch hatte sie einen großen Kopf und helle Augen, blickte scharf zum Himmel empor und war ganz strahlendweiß und durchsichtig wie eine heitere Wolke. Sonst erblickte ich nichts Menschenförmiges an ihr. Und sie rief durch das ganze Gebäude allen übrigen Tugenden zu und sprach. 

   

   2. Die Worte der Gerechtigkeit
   

   'Wir wollen uns tatkräftig erheben; denn Luzifer ergießt seine Finsternis über die ganze Welt. Laßt uns Türme bauen und sie mit himmlischen Schutzwehren befestigen. Denn der Teufel widersteht den Auserwählten Gottes und bekämpft sie. Wie er am Anfang seiner Herrlichkeit vieles wollte und versuchte, so will und versucht er auch jetzt in seiner Finsternis sehr viel. Er verbreitet nämlich seine Schlechtigkeit und Bosheit durch seinen Anhauch und seine Saat und will nicht davon ablassen. Wir Himmelskämpfer sind dazu bestellt, ihn in seiner Schlechtigkeit und Bosheit zu überwinden, damit die Menschen auf der Welt vor seiner Feindschaft gerettet werden können. Und wie er gleich bei seiner Erschaffung versuchte, die Gottheit zu bekämpfen, so wird auch sein Nachahmer, der Antichrist, in der Endzeit versuchen, der Menschwerdung des Herrn Widerstand zu leisten. Luzifer fiel am Beginn der Zeiten, an ihrem Ende aber wird auch der Antichrist zugrundegehen. Dann wird man erkennen, wer der wahre Gott ist, und sehen, wer er ist, der niemals zu Fall kam. Wie aber Luzifer Dämonen als Anhänger hatte, die ihm von der Höhe des Himmels in den Sturz der Verdammnis folgten, so besitzt er auch auf der Erde noch Menschen, die ihm in den Untergang der Verwerfung folgen. Wir Tugendkräfte aber sind (zum Schutz) gegen seine Ränke und Einflüsterungen bestimmt, die er in die Welt aussendet, um Seelen zu verschlingen. So sollen durch uns alle seine Listen in den Seelen der Gerechten zunichte gemacht werden, damit er völlig beschämt erscheint. Deshalb wird Gott von uns anerkannt; denn man soll ihn nicht verschweigen sondern offenbaren, weil er in allem gerecht ist.'

   

   Die erste der beiden, die vor dieser Gestalt nebeneinander standen, schien bewaffnet zu sein. Sie trug nämlich Helm, Schild, Beinschienen und Eisenhandschuhe. In der Rechten hielt sie ein entblößtes Schwert, in der Linken aber eine Lanze. Und unter ihren Füßen zertrat sie einen schrecklichen Drachen und durchbohrte seinen Rachen mit dem Eisen der Lanze, so daß er unreinen Schaum ausspie. Aber sie schwang auch das Schwert, welches sie hielt, wie zum tapferen Dreinschlagen. Und sie sagte:

   

   3. Die Worte der Stärke
   

   'O allmächtiger Gott, wer kann dir widerstehen und dich bekämpfen? Das vermag die alte Schlange, jener teuflische Drache, nicht. Darum will auch ich mit deiner Hilfe gegen ihn kämpfen. So soll mich niemand überwinden oder zu Boden werfen, d.h. kein Starker oder Schwacher, weder ein Fürst noch ein Niedriger, ein Edler oder Unedler, ein Reicher oder Armer. Ich will mich als stahlhart erweisen und alle zum Gotteskrieg tauglichen Waffen unbesiegbar machen. Unter ihnen möchte ich sogar die schärfste Schneide sein, denn im allmächtigen Gott kann mich niemand brechen. Durch ihn erhob ich mich auch, den Teufel zu vertreiben. Daher werde ich für die gebrechlichen Menschen immer eine ganz sichere Zuflucht sein und verleihe ihrer Nachgiebigkeit eine scharfe Schneide zu ihrer Verteidigung. O milder und gütiger Gott, hilf den Zertretenen!

   

   Die andere Gestalt aber hatte drei Häupter, d.h. es erschien ein Kopf am gewöhnlichen Ort und auf jeder Schulter einer: der mittlere ragte jedoch ein wenig über die beiden andern hinaus. Doch dieser mittlere und der zu seiner Rechten strahlten von so großem Glanz, daß ihre Herrlichkeit meine Augen blendete. So konnte ich nicht ganz genau sehen, ob er ein männliches oder ein weibliches Aussehen hatte. Der links erscheinende war dagegen mit einem verbergenden weißen Schleier verhüllt, wie ihn Frauen gewöhnlich tragen. Diese Gestalt war aber mit einer Tunika aus weißer Seide und schneeweißen Schuhen angetan. Und auf ihrer Brust trug sie das Zeichen des Kreuzes. Auch umgab es ein heller rötlicher Schein, der auf der Brust wie Morgenrot erstrahlte, schimmernd. In der Rechten jedoch hielt sie ein entblößtes Schwert, das sie sehr andächtig an ihre Brust und das Kreuz drückte. Und ich sah an der Stirn des mittleren Hauptes geschrieben: 'Heiligkeit' und an der Stirn des rechten: 'Wurzel des Guten' und an der Stirn des linken: 'Ohne sich zu schonen'. Und das mittlere blickte auf die beiden andern und sprach.

   

   4. Die Worte der Heiligkeit, die drei Häupter hatte
   

   'Ich stamme von der heiligen Demut. In ihr wurde ich gezeugt, wie ein Kind in der Mutter gezeugt wird. Von ihr wurde ich auch erzogen und erstarkte wie ein Knabe, der von einer Amme großgezogen wird. Meine Mutter, die Demut, übersteht und überwindet alles Widerwärtige, das andern vollends unerträglich ist.'

   

   Und das Haupt zu seiner Rechten blickte zu seinem Oberhaupt hin und sprach.

   

   5. Die Worte des rechten Hauptes
   

   'Auf dem höchsten Berggipfel, der Gott ist, schlage ich gleich bei der Geburt Wurzel. Und daher, o Heiligkeit, muß ich mich mit deinem Herzen verbinden, damit du bestehen kannst.'

   

   Auch das Haupt zu seiner Linken sprach zu seinem Oberhaupt gewandt.

   

   6. Die Worte des linken Hauptes
   

   'Ach, ach, ach, wie bin ich doch so hart und unbeugsam, daß ich mich kaum überwinden kann, dir, o Heiligkeit zu Hilfe zu eilen, da du doch ohne mich nicht stehen kannst, wenn ich fliehe? Weh, weh, weh dem, der das Gute vernachlässigt! Und dennoch muß ich den quälenden Dorn herausziehen, der mich durch sein Stechen ins Verderben zu treiben versucht, wenn ich ihn nicht entferne, bevor er sich ganz in mir festgebohrt hat und wie in einem faulenden Kadaver in mir Entzündung hervorruft. O Heiligkeit, damit du frei aus dir bestehen kannst, will ich die räuberische Schlinge des Teufels meiden und sie im wahren Gott zerreißen.'

   Und wiederum deutete mir das der Thronende, wie vorher gesagt, und sprach.

   

   7. Nach der Fleischwerdung des Gottessohnes begann durch die Festigung in den Tugenden die Berufung des neuen Volkes zu einem neuen Bau
   

   Nach der Fleischwerdung des Gottessohnes erging - durch seine Lehre im Heiligen Geist gefördert - die Berufung des neuen Volkes zur Erlösung. Sie wurde durch die Ermahnung der seligen Tugendkräfte in den tugendliebenden Menschen gegen den furchtbaren Feind bestärkt; da kein Mensch ohne die Hilfe der Gnade Gottes ihm widerstehen kann, erweist sie sich mit Gottes Hilfe so unbesiegbar, daß sie durch keine seiner hinterhältigen Listen von Gott abgezogen oder vernichtet werden kann. Deshalb versinnbildlicht dieser Turm, den du jenseits der genannten Säule der Menschheit des Erlösers siehst, die Kirche. Als die Fleischwerdung meines Sohnes vollbracht war, entstand in jedem guten Werk ein neuer Bau, wie ein gut befestigter Turm in der Kraft und Erhabenheit der himmlischen Handlungen der Bosheit des Teufels zum Widerstand entgegengesetzt.

   

   8. Die vom Licht der Menschheit des Gottessohnes erleuchtete Kirche wird der inneren und äußeren Erkenntnis der Menschen vor Augen gestellt
   

   Daher ist er von überaus hellem Glanz und so auf die erwähnte Steinmauer an der Südseite aufgesetzt, daß man ihn sowohl innerhalb als auch außerhalb dieses Gebäudes sehen kann. Denn durch das heitere Licht der Menschheit des Gottessohnes erhellt, nimmt sie (die Kirche) lebendige, durch die Glut des Heiligen Geistes derart entzündete Steine zu ihrem göttlichen Werk, damit es der inneren Erkenntnis der himmlischen Einsicht in die Heilige Schrift, und der äußerlichen Torheit (des Umgangs) mit weltlichen Dingen in jenem Bau, den der himmlische Vater durch seinen Eingeborenen errichtet, Gläubigen und Ungläubigen offen vor Augen gestellt wird.

   

   9. Die Kirche stellt all ihren Schmuck ihrem Bräutigam zurück
   

   Sein Durchmesser beträgt an der Innenseite überall gewiß fünf Ellen. Denn die Weite aller inneren Schau und die Absicht der ganzen beständigen Betrachtung leitet sie durch ihre Ausstattung mit den fünf Sinnen bei der Eingießung des Heiligen Geistes mit allen Tugendkräften, welche ihr das wahre Lamm offenbart, zur Verherrlichung dieses Lammes, d.h. ihres Bräutigams, zurück.

   

   10. Das Menschenherz kann die göttliche Weisheit im Aufbau der Kirche nicht erforschen
   

   Seine Höhe aber erscheint so ungeheuerlich, daß du sie nicht ausmachen kannst. Denn die Erhabenheit und Tiefe der göttlichen Weisheit und Erkenntnis beim Aufbau der Kirche ist größer, als das gebrechliche und sterbliche Herz mit seiner Beurteilung erforschen kann.

   

   11. Die Verherrlichung Gottes in der Kirche ist noch im Wissen Gottes verborgen; durch den Eifer und Fleiß der Lehrer eilt sie täglich unaufhaltsam der Vollendung entgegen
   

   Daß jedoch zwischen diesem Turm und der Säule der Menschwerdung des Erlösers nur das Fundament gelegt und noch keine Mauer darauf gebaut ist, sondern sich nur eine ellenlange unterbrochene freie Stelle - wie schon oben angedeutet wurde - zeigt, heißt: Der große Ruhm der Kirche, welche bräutlich mit meinem Sohn verbunden ist, bleibt noch im Wissen Gottes wie auf einem festen Fundament verborgen; es strahlt noch nicht im abgeschlossenen Werk der Vollendung öffentlich wider, sondern steht in den Menschenherzen noch, ohne sich kundzutun, frei zur Verfügung, hat aber dennoch das Maß eines Menschen. Die Sinne der Menschen unterliegen nämlich der Macht des einen wahren allmächtigen Gottes. So kann der Mensch auch in Erkenntnis des Guten und Bösen durch seinen Verstand erfassen, was für ihn nützlicher ist, wie dir auch oben in öffentlicher Kundgabe gezeigt wurde.

   

   Und daß dieser Turmbau noch nicht ganz vollendet ist und zahlreiche Werkleute sehr geschickt und schnell unermüdlich daran bauen, heißt: Die Kirche ist noch nicht zu dem Stadium und Stand gelangt, den sie erreichen soll, obwohl sie nicht aufhört, mit großem Eifer und Fleiß im schnellen Ablauf der Zeiten in ihren gehenden und kommenden Kindern täglich ohne Aufschub der Vollendung ihrer Schönheit entgegenzueilen.

   

   12. Die Kirche ist unüberwindlich, umgeben von den sieben Gaben des Heiligen Geistes
   

   Ringsum an seiner Spitze jedoch sind sieben wunderbar starke Schutzwehren errichtet. Denn sie ist in der Erhabenheit himmlischen Wirkens mit den sieben unbesiegbaren Gaben des Heiligen Geistes umgeben, welche von solcher Stärke sind, daß sie kein Feind zerstören oder im Hochmut seines Geistes stolz daran zu rühren vermag.

   

   13. Die Kirchenlehrer, welche sich in der apostolischen Lehre auszeichnen, stärken die Kirche durch ihr einmütiges Wirken
   

   Daß du aber von der Innenseite des besagten Gebäudes etwas wie eine Leiter bis an die Spitze des Turmes angelegt siehst, bedeutet: In dem Bauwerk, das der himmlische Vater nach göttlichem Plan durch seinen Sohn erstellt hat, gab es viele Sprossen in der einmütigen blühenden Entwicklung der ursprünglichen kirchlichen Institution, die an die erhabenen himmlischen Geheimnisse rühren, mit denen die Kirche gestärkt und gefestigt wird.

   

   Und auf ihren Sprossen stehen, von unten bis oben, eine Menge Menschen. Denn seit den ersten Zeiten der Brautschaft der Kirche bis zur Hochzeit, da sie sich öffentlich mit ihrem Bräutigam an der Vollzahl ihrer Kinder freuen wird, werden auf den Sprossen der aufgestellten Gebote, durch die sie erbaut wurde, die apostolischen Leuchtern erstrahlen, welche sie mit ihrem Schutz vor der Finsternis des Unglaubens verteidigen.

   

   14. Die Kirchenlehrer führen die Irrenden in Glaube und Tat zum Weg der Wahrheit
   

   Deshalb haben sie auch ein feuriges Antlitz, ein weißes Gewand, aber schwarze Schuhe. Denn bei ihrem Sinn für das Geistige - nämlich der apostolischen Leitung - wurde der Glaube, d.h. der Glaube an den einen Gott, durch die Glut des Heiligen Geistes gleichsam sichtbar auf ihrem Antlitz entfacht. So strahlen sie in lauterster Herrlichkeit im Gewand der guten Werke vor Gott und der Welt wider, wenn sie auch in schwarzem Schuhwerk auftreten, weil sie auf den Wegen des Unglaubens und der Beschmutzung mit den Vergehen der ungläubigen Völker umhergezogen sind. Durch ihr Beispiel führten sie die Umkehrenden - wenngleich unter großer Schwierigkeit - dennoch auf den Weg der Gerechtigkeit.

   

   15. Die Apostel und ihre Nachfolger, d.h. die im Apostolat Tätigen, haben die eine Hauptaufgabe, die Braut Gottes mit großem Eifer liebevoll anzuleiten
   

   Daß aber einige von ihnen zwar das gleiche Aussehen haben, aber größer und strahlender sind, heißt: Unter diesen Verteidigern der Kirche sind die Gründer der Kirche die ersten; sie haben sie gleich nach dem Gottessohn durch ihre Predigt auferbaut und haben dieselbe Sendung wie auch ihre Nachfolger, die als ihre besonderen Nachahmer gelten. Jene nämlich gingen voran, diese folgten; doch jene hatten den Vorrang weil sie selbst keinen andern Vorgänger hatten, von dem sie das Beispiel des neuen Gnadenlebens erhielten, als den Sohn Gottes. Aus seinem Mund hörten sie das Wort des Lebens. Und sie übertrafen jene an Ruhm, weil sie vor den übrigen persönlich das Aufblitzen seiner Menschwerdung schauten. Sie blicken sehr aufmerksam auf den Turm, weil sie nicht aufhören, der Braut Gottes beständig in der göttlichen Liebe ihres frommen Eifers zur Seite zu stehen, damit sie in voller Kraft dastehe, wie geschrieben steht.

   

   16. Worte Salomons zum selben Thema
   

   "Dein Hals ist wie ein Davidsturm, der mit Schutzwehren erbaut ist; tausend Schilde hängen daran, die ganze Waffenrüstung der Helden" (Hld. 4,4) Das ist so:

   

   Wie die Menschwerdung des Sohnes des höchsten Herrschers (rectoris), d. h. des starken Löwen aus jungfräulicher Blüte (veniens), zum stärksten Instrument der neuen Gnade bestimmt ist, so ist, o neue Braut, die Stärke deines Glaubens, der unversehrt besteht, zum sichersten Schutz des gläubigen Volkes bestellt. Wie? Deinen so starken Kräften helfen und vereinen sich alle Verteidigungsmauern deiner Söhne. Diese sollen an den neu ans Licht gekommenen kleinen Bächen, die aus dem lebendigen, ganz reinen Quell rinnen, aufwachsen. Sie sind mit dir in jener Stärke vereinigt, wie der Hals mit dem Rumpf verbunden ist. So kannst du weder zerstört noch zerstreut werden, wie auch die siegreichen Waffen des wahren David nicht überwunden werden konnten. Wieso?

   

   Die Kraft Christi Jesu, des Gottessohnes, ist ein äußerst starker Turm, in dem sich die ruhmreiche Kriegsschar der Gläubigen in unbesiegbarer Bewährung übt; kein Feind kann sich rühmen, diese zu überwinden, weil sie Christus, den wahren Gott und Menschen, in ihrer Mitte hat. Bei der zweiten Wiedergeburt wird sich durch ihn die ganze Mauer (compago) deiner Söhne entsprechend zum Heil entwickeln. Daher wurde diese ganz reine Menschwerdung von den Propheten vorhergesagt und mit den kostbarsten Edelsteinen der Tugenden geschmückt. Mit den Schutzwehren der apostolischen Lehre, d. h. mit (Hilfe) der Verkünder des wahren Lichtes der Gerechtigkeit, wurde sie über den ganzen Erdkreis zum Heil der Gläubigen verbreitet, wie dieses Gleichnis zeigt.

   

   17. Ein Gleichnis zum selben Thema
   

   Ein Gebieter besaß eine marmorweiße Stadt und ließ darin laut seine Stimme ertönen. Und die Mauern schmückte er innen mit viel Reliefarbeit und man (ipsa) blies die feinen Feilspäne aus dem unpolierten Gestein. Danach rief dieser Herr mit seinem einzigen Wort die Wassertropfen (aquae aquarum), daß sie das Gestein mit ihrem Regen glätten möchten. Als auch das geschehen war, ermunterte er schweigend das Feuer vom Feuer, kleine Zelte zu erstellen. Als auch das ausgeführt war, wuchsen diese Zelte derart in die Höhe, daß sie durch ihr rasches Wachstum jene Stadt an Höhe übertrafen. Das ist so: Jener Herrscher ist der, dem niemals ein anderer in der Herrschaftsgewalt voranging; er ist vielmehr allein über allem und in allem. Denn nichts gab es (inventum est) vor und nach ihm, und deshalb ist er Herr über alles. Diese berühmte Stadt, nämlich die Schar der Propheten, hat er gegen die Wut der irdischen Stürme fest und beständig in seiner Gewalt. Sie sollten nämlich von der Eingießung des Heiligen Geistes erfüllt werden. Da ließ der Herr so seine Stimme unter ihnen ertönen und er erzeugte in ihnen einen solchen Redestrom (exspirationem), daß sie seine Geheimnisse in dunklen Worten aussprachen, wie man zuerst einen Ton hört, wenn man das Wort noch nicht versteht. Indes folgte das wahre Wort nach der Menschwerdung des Gottessohnes der Stimme ihrer Prophetie. Der Herr meißelte ihre Herzen auf vielfache Weise, als er ihrer Einsicht den vielfältigen Geist der Weisheit einflößte, so daß sie die Unermeßlichkeit Gottes in der gegenwärtigen wie auch in der künftigen Zeit mit geistlichem Gespür prophezeiten. Durch ihn brachten sie gegen die widersprüchlichen Sitten der Menschen scharfe Worte hervor, mit denen sie die verhärteten Herzen der Juden zur Milde und Güte seligmachender Taten herausforderten.

   

   Doch nach der Fleischwerdung des Wortes Gottes bedeutete der himmlische Vater in seinem Sohn den Aposteln, welche als hervorragende Menschen aus dem gewöhnlichen Volk ausgesondert waren - wie ganz lautere Bäche von den in der Ebene hinfließenden Wassern geschieden werden - und sagten ihnen, sie sollten im Strom des Glaubens auf den Erdkreis hinausfließen und die große Spaltung der höhnischen Aufgeblasenheit des Stolzes und die überhebliche Götzenverehrung niederhalten und zertreten, damit die Menschen auf ihre Predigt hin in Erkenntnis des wahren Gottes ihren Unglauben aufgäben. Als dieser Glaube in den Völkern erstarkt war, ermahnte dieser Prokurator die glühenden Gemüter aller seiner Erwählten, die von den feurigen Herzen derer entzündet waren, welche der Heilige Geist bei seiner Herabkunft in feurigen Zungen berührt hatte, auch liebreich im Heiligen Geist: Da sie nun die Welt verachtet hätten, sollten sie es nicht von sich weisen, klein und arm im Geist im Hinblick auf das himmlische Leben zu sein, um sich durch diese kleinen Zelte der Demut überirdischen Reichtum zu erwerben. Als die Verächter des Vergänglichen diese Werke der Demut nachahmten und in erhabenem Eifer beständig über die so einfachen Gebote Gottes nachsannen (ruminantes), stiegen sie so - wie die Märtyrer, Jungfrauen und die übrigen, welche sich selbst erniedrigten - durch ihre Zerknirschung zur himmlischen Liebe auf. So obsiegten auch die Arbeiter, welche im Weinberg des Alten Testaments arbeiteten, schnell durch ihren guten Eifer, als sie sich selbst für nichts erachteten und mit ganzem Verlangen nach dem Ewigen trachteten.

   

   Daher hängen auch am Sohn Gottes unter der neuen Gnade tausend Schilde, nämlich viele vollkommene Verteidigungsmöglichkeiten des vollendeten Glaubens, indes sich die ersten Hirten der Kirche an ihm ein Beispiel nehmen und wegen der Hoffnung auf das Himmlische sich selbst mit Füßen treten und den katholischen Glauben, der durch das Vergießen ihres Blutes gestärkt wurde, vor den feurigen Pfeilen des Teufels, welche die Seelen der Menschen verwunden, beschützen. Ihnen folgen vielerlei Tugendkräfte der bewaffneten (armaturae) himmlischen Heerschar in den übrigen Erwählten, die sich auch in dieser Welt der Liebe Gottes hingeben. Wieso? Weil die alte Schlange dem ersten Menschen den so schlechten Geruch der Gottesverachtung einblies. Deshalb wird auch der Teufel selbst vom Duft aller Wohlgerüche, nämlich der Keuschheit, Enthaltsamkeit und Bindung an die Gebote Gottes und auch des mit Christus gemeinsam getragenen Joches und der Verachtung der ganzen Welt, grausam mit diesen ihn verderbenden himmlischen Pfeilen durchbohrt, so daß er, aus der Gottesstadt vertrieben, beschämt und niedergetreten wird und - öffentlich auf der Seite der Verdammten - die Gläubigen abschreckt.

   

   18. Die nach dem Fleisch Lebenden sollen die Macht Gottes erkennen und beachten
   

   Daß du aber an der Nordseite dieses Gebäudes die Welt und die Menschen, welche aus dem Samen Adams hervorgehen und zwischen der erwähnten Lichtmauer dieses Gebäudes - der spekulativen Erkenntnis - und dem Schein des Lichtkreises, der sich vom Thronenden ergießt, hin- und herlaufen siehst, bedeutet: Die Welt und die weltlichen Menschen sind von der Schuld der Stammeltern her in den Zustand der fleischlichen Begierden versetzt, die sich in Schwäche gegenüber vergänglichen irdischen Lüsten äußern. Einerseits wird ihnen die Erkenntnis von Gut und Böse mitgegeben, damit sie sich durch das Gute am Werk Gottes beteiligen und das Böse fliehen; andererseits zeigt sich ihnen die Macht Gottes, damit sie sich bewußt werden, daß sie unter seiner Oberhoheit stehen und nicht daran zweifeln, daß alle ihre Taten von ihm geprüft werden.

   

   19. Von der Verschiedenheit der vielerlei Menschen, welche die Kirche betreten und verlassen
   

   Daher betreten auch viele von ihnen durch die erwähnte Mauer der spekulativen Erkenntnis zwischen dem Turm des göttlichen Ratschlusses und der Säule seines göttlichen Wortes dieses Gebäude, gehen hindurch und verlassen es wieder, wie sich eine Wolke dahin und dorthin verzieht. Denn viele nähern sich - vom Alten oder Neuen Bund ermahnt - dem göttlichen Bauwerk und betreten es durch die spekulative Erkenntnis, nachdem sie sich von den fleischlichen Begierden getrennt haben. Und viele folgen ihren Lüsten und verlassen es wieder in ihren bösen Begierden. So verziehen sie sich, je nach ihrem Wunsch nach dem Guten oder dem Bösen, schnell wie die Wolken, d. h. von ihren Gedanken beeinflußt, nachgiebig (relaxando) da- und dorthin.

   

   Daß aber die, welche diese Gebäude betreten, mit einem blendendweißen Gewand bekleidet werden, heißt: Die sich mit gutem Willen dem Bauwerk Gottes nähern, werden, um Gott zu erkennen, durch seine Barmherzigkeit mit dem reinsten und strahlendsten Gewand des wahren Glaubens bekleidet. Die einen frohlocken in großer Freude über dieses angenehme und anschmiegsame Gewand und behalten es an. Denn vom Geist der Zerknirschung und Demut und vom süßen und milden katholischen Glauben durchdrungen und vom innerlichen Saft der Heiligkeit durchströmt, erfreuen sich ihre inneren Augen stets am Himmlischen. Sie erfüllen und bewahren ganz hingegeben alles, was ihnen der Heilige Geist eingibt. Die andern aber wollen es, gleichsam traurig über seine Last und Mühsal, ausziehen. Sie versuchen nämlich, wie mit einer zu schweren Bürde belastet, auf einen äußerst schwierigen, hindernisreichen Weg gestellt und sich innerlich nach der unruhigen und bitteren Gewohnheit ihrer unerlaubten Lust zerfleischend und zerreißend, den Glauben in ihren Werken abzuwerfen, um sich nicht von den göttlichen Geboten ermahnen lassen zu müssen. Die Tugend, welche du früher Gotteserkenntnis nennen gehört hast, beschwichtigt sie öfter gütig und spricht mahnend zu jedem von ihnen, wie schon gesagt wurde. Denn der allerhöchste Gott weiß schon im voraus, daß die steinharten Herzen der Menschen sich erweichen lassen; er neigt sich in seinem Erbarmen zu ihnen, wie dir gezeigt wurde, und ermahnt sie häufig, ihn innerlich seufzend und weinend anzuflehen, sie von ihrer lästigen Bosheit zu befreien, mit der sie die teuflische Überredungskunst erfüllt hat, damit sie reuevoll (in hac paenitentia) zur Einsicht ihres guten Willens zurückkehren können und sich an das Gewand der Unschuld erinnern, das sie in der Wiedergeburt aus Geist und Wasser empfangen haben.

   

   Daß du aber wahrnimmst, daß manche von ihnen - durch diese Worte zurechtgewiesen - obzwar ihnen dieses Gewand beschwerlich vorkommt, es dennoch mit großer Anstrengung anbehalten, bedeutet: Von der Eingebung des Heiligen Geistes ermuntert, reißen sie gleichsam den für das Herz beschwerlichen und schwierigen Weg an sich. Wenn es ihnen auch viel Mühe kostet, vollenden sie ihn schließlich doch, ohne zu verzweifeln oder in Überdruß zu erschlaffen. Einige jedoch spotten über diese Worte, ziehen das Gewand wütend aus, werfen es weg und kehren in die Welt zurück, woher sie gekommen sind. Sie erforschen viel Dinge und lernen viel unnütze weltliche Eitelkeiten kennen. Das sind jene, die das Gesetz Gottes und seine Gerechtigkeit lächerlich machen, sich in den Einbildungen ihrer Irrtümer des Glaubens entkleiden und ihn in ihren bösen Taten verleugnen, die zum Tod führen. Sie neigen sich den Eitelkeiten dieser Welt zu, die sie vorher heuchlerisch aufgegeben hatten. Durch unrechte Kunstgriffe erkunden sie wollüstige Handlungen, lernen den leidenschaftlichen Genuß der Welt kennen und verkehren ihn in teuflischer Spötterei gemäß seiner Täuschung. Schließlich kehren einige davon in das Gebäude zurück, nehmen das abgeworfene Gewand wieder an sich und ziehen es an. Denn diese kehren vom Weg des Irrtums zurück und kommen zum göttlichen Bau. Die Spaltung des Teufels, in der sie nach seinem Willen lebten, werfen sie von sich und nehmen das Gewand des wahren Glaubens, welches sie in der Taufe empfangen und in ihren Irrtümern zum Hohn des wahren Gottes abgeworfen hatten, wieder an sich, indem sie ihn wiederum reinen und einfältigen Herzens anerkennen. Die anderen aber wollen nicht zurückkehren und bleiben, seiner beraubt, in Schande in der Welt zurück. Denn diese verschmähen es, in aufrichtiger Buße zu Gott zurückzukehren und führen - des Gewandes der Unschuld beraubt und deshalb vom Gut gläubiger Taten entblößt, aber voll des Bösen lästerlicher teuflischer Künste in der Schlechtigkeit weltlicher Eitelkeiten - in größter gegenwärtiger und künftiger Beschämung bis zum Tod ihr unbußfertiges Leben weiter.

   

   20. Von den Simonisten und den geheimen göttlichen Urteilen über sie
   

   Daß du aber siehst, wie einige voller Schmutz und pechschwarz, wie vom Wahnsinn angetrieben, von Nordosten herankommen und auf dieses Gebäude anstürmen, rasend über den Turm herfallen und gegen ihn wie Schlangen zischen, heißt: manche verbrecherische Menschen, die vom Schmutz der ruhelosen Leidenschaft nach abgeschmackten Vergnügungen (mobili calore laeti stuporis) starren, verachten Gott mit finsternem teuflischem Blick und suchen den Gegenstand ihres Verlangens nicht kraft der Gabe des Heiligen Geistes. Vielmehr sind sie von teuflischer List angehaucht und angestachelt und von der Seite der Verdammnis ausgesandt; sie betreten in schlauer List den Bau. Durch heimliches Erschleichen, offenen Raub und in unsinnigem Wüten vereinnahmen sie aufs Geratewohl (temere) durch das verruchte Geld in fürchterlicher teuflischer Schwärze die von Gott festgesetzten Ämter. Und auf diese Weise bringen sie die Kirche durch ihr unsinniges Wüten in Verwirrung und lassen gegen sie das Zischen der betrügerischen alten Schlange hören. Auf welche Weise? Mit teuflischen Ränken wehen sie unvorsichtige Menschen so lange an, bis sie nach ihrem Wunsch durch eine todbringende Bestechung gewinnen. Mit diesem Zischen der Prahlerei beflecken sie die Kirche, wenn sie Vollmachten, die der Anordnung Gottes unterliegen, erschleichen. Weil sie das tun, sind sie als Unbußfertige von meinem Angesicht verstoßen und ich kenne sie bei diesen Ämtern nicht, weil sie sie aus sich und nicht durch mich erlangt haben, wie mein Knecht Osee andeutet und spricht: "Sie regierten, doch nicht in meiner Vollmacht; sie ragten als Fürsten hervor und ich kenne sie nicht. Aus ihrem Silber und Gold machten sie Götzen zu ihrem Verderben" (Os. 8,4). Das ist so:

   

   Menschen die ihrem eigenen Willen folgen, rechnen sich aus und beschließen in ihrem Herzen, was ihnen ihr eigenes Verlangen rät. Was ist das? Ihre leidenschaftliche Begierde, die sie dazu überredet, mit weder von mir erbetener noch empfangener oder bestimmter, sondern erschlichener und geraubter Würde über Menschen zu herrschen. Zuweilen erlaube ich es gleichwohl, daß es so geschieht, damit sie für ihre Eigenwilligkeit das Strafgericht überkommt; denn sie haben mich nicht darüber befragt. Und was nützt ihnen das, da sie darin nicht grünen sondern vergorren, und weil das nicht von mir kommt (non plantavi)? Doch in ihnen entsteht unnützes Kraut ohne Stengel. Unfruchtbare Gräser entsprießen nämlich leicht von selbst der Erde, fruchtbare aber werden mit großer Mühe gesät und gepflanzt. So lasse ich auch zu, daß manchmal das irdische Verlangen eines Menschen, ohne verwurzelt zu sein, leicht im Bösen erblüht und nicht nach der Einpflanzung des Guten fragt, weil es nicht die Grünkraft des Sommers besitzt. Manchmal erlaube ich es auch, daß sein rechtes Verlangen, richtig im Guten wurzelt, durch vieles Unglück hindurch Frucht bringt und die Bewässerung der Heiligkeit liebt. Denn ihm fehlt die Strenge des Winters. Deshalb herrschen oft gemeine Menschen über das einfache und taugliche Volk, wie manchmal auch unnützes Gras höher ist als nützliche Gewächse. Diese sind aber nur auf ihre Eigenwilligkeiten gestellt, nicht durch meine Einpflanzung verwurzelt, von der Erkenntnis meiner Gabe berührt oder von mir bestellt. Doch das lasse ich nach gerechtem Urteil geschehen. Denn sie haben das nicht von mir erbeten, sondern selbst für sich bestimmt; deshalb werden sie mir bei meinem Gericht Rechenschaft darüber ablegen. Denn die Glückseligkeit der so vorzüglichen Lehre sollten sie in ihrem Geist auf alle ungebührliche Ungläubigkeit untersuchen, wie Silber von allem Unechten gereinigt wird; und über den Nutzen der tiefsten Weisheit müßten sie in ihrem Willen verfügen und mit ihr in lebendigem Glauben (splendidissima fide) stets wahrnehmen, wie Gott zu verehren, zu fürchten und zu bekennen ist. Sie machen sie sich aber zur nachteiligen Eitelkeit. Wie? Sie verbiegen sie zum größten Unglück, indem sie nämlich ihre Einsicht, die sie von Gott haben, den unersättlichen Begierden ihres Fleisches opfern, als ob das übelriechende und verwesende Fleisch allein ihr Gott sei. Sie wollen ihre Augen nicht zu Gott ihrem Schöpfer erheben, sondern halten ihren Willen für Gott; sie leben nämlich so, wie sie es sich selbst verordnen und festsetzen. Das tun sie also nicht deshalb, um in den Besitz des Ackers zu kommen, der die Speise des ewigen Lebens hervorbringt, sondern um sich von ihm zu entfernen und unbußfertig auf ewig verloren zu gehen. Denn der, den sie als Gott verehren, ist tot, wie auch sie tot sind, nämlich sowohl die Verschacherer als auch die Käufer geistlicher (Würden), indem sie das zu sein verlangen, was sie von mir nicht erbeten haben. Denn wer tollwütig über die Macht herfällt und die begründete (rationabile) Gabe des Heiligen Geistes käuflich macht, wie kann der durch Feilgebotenes glücklich werden, da ja auch ein Mensch, der sein Vermögen Fremden verkauft, nicht weiter darüber verfügen kann? Und wie sollte auch dieser Käufer aus dem erkauften Glück Nutzen ziehen, da er es nicht von Gott annehmen wollte, sondern sich beeilte, es mit Geld zu erwerben? Dennoch läßt Gott es nach seinem gerechten Urteil geschehen, daß er es erwirbt.

   

   Denn manchen erlaubt Gott unwillig, es zu erschleichen, straft sie aber nach geheimen Urteil schon jetzt und nicht in Zukunft, damit die Welt, die sie - ohne den Heiligen Geist zu beachten - liebten, in ihnen zuschanden werde, so daß sie durch diese Beschämung dazu geführt werden, reuig zu Gott zurückzukehren, und wenn das geschehen ist, die künftige Vergebung erlangen. Manche aber duldet er in diesem Zustand, peinigt sie nicht im gegenwärtigen Augenblick, sondern verschiebt es aus gerechtem Grund auf die Zukunft, weil sie ihren Willen für Gott halten. Daher zeigt auch er ihnen erst in Zukunft, daß ihnen ihr Wille zu bitteren Qualen gereicht. Er bestraft aber auch manche von ihnen sowohl jetzt als auch später. Denn ihre scharfe innere Einsicht macht sich eigenwillig (sua voluntate) gemein und verachtungswürdig, indem sie in ihren bösen (Taten) den Teufel nachahmt. Andere läßt er auch dazu gelangen, daß das Böse durch ihre Buße zunichte wird, wenn sie sich für die begangene Ungerechtigkeit scharf strafen und sie wie einen verwesenden Kadaver wegwerfen. Manche jedoch widersteht er barmherzig, dazu zu gelangen; denn wenn sie das erreichen würden, würden sie die Höllenqualen nicht fliehen und verdienen, sehr darin gepeinigt zu werden.

   

   Wer immer aber auch den Thron der Macht auf den Rat seines Vaters, des Geldes, preisgibt oder raubt - es wird nämlich sein Vater, da es ihm käuflich das Verderben einbringt - der soll, ob er sie nun verliehen oder erworben hat, von dieser Würde abgesetzt werden. Denn wenn einem Mann sein Vieh entwedet und an einen andern verkauft wurde, darf es der Bestohlene mit allem Recht zurückverlangen, wenn es gefunden wird. Der Verkäufer jedoch und der Käufer müssen es beide ohne Widerspruch hergeben. So wird auch eine Amtswürde (dignitas potetatis), die man gemäß meiner Gerechtigkeit besitzen soll, wenn sie durch Bestechung geraubt und zu Unrecht (perverse), an andere vergeudet wird, in strengem Gericht von mir zurückverlangt. Und daher wird, wer sie feilgeboten hat oder unwürdig erwarb, nach gerechtem Urteil ihrer Nutznießung beraubt. Denn sie machten das meinem Namen geweihte Gotteshaus zu einer Räuberhöhle (domum rapinae). Wieso?

   

   Die Weisheit und den Rat, die ich ihrem Herzen schenkte, brachten sie nach ihrem Entschluß auf den Markt und empfangen für sich dafür zum Verderben der andern das Geld der Ungerechtigkeit. Deshalb sollen sie in bitterer Reue das Erworbene fortwerfen oder sich mir in grausamer Feuersglut dafür verantworten. Denn wer versucht, die bestehende (viventem) Würde, welche der Heilige Geist in den geistlichen Häuptern (apicibus) zum Leben erweckt, mit einem irdischen Preis zu begleichen und zum üblen Geruch, der in Verwesung übergeht, zu führen, ist - wenn er nicht schnell Buße tut, wegen dieser boshaften Überheblichkeit verloren. So spricht auch der vom Heiligen Geist entflammte Sohn der Taube, Petrus, der den Irrtum aufgab und alles verließ, zu dem abtrünnigen Aufwiegler (transeunti turbini). welcher das Licht mit häßlicher Finsternis verschlingen wollte.

   

   21. Worte des Apostels Petrus über dasselbe Thema
   

   "Dein Geld fahre dir ins Verderben, weil du glaubtest, die Gabe Gottes mit Geld erwerben zu können. Denn du hast weder Anteil daran noch ein Recht darauf. Dein Herz ist nämlich nicht aufrichtig gegenüber Gott" (Apg. 8,20-21). Das ist so:

   

   Das Geld deines trügerischen Vertrauens, das du auf ein fremdes Gut wie auf einen Herrn setzt, während es dich für nichtig erachtet, gereiche dir zum Verderben im höllischen Feuer, wenn du diese Gabe, die vom feurigen Heiligen Geist stammt, durch ruchloses (nefas) Geld erworben hast und reuelos behältst. Denn in einer oberflächlichen Erkenntnis deiner Seele meintest du, das Feuer (accensionem) dessen, der alles genau sieht (inspectoris) mit Bestechung in Besitz zu nehmen, dem du es nicht zutrautest, als Gabe Gottes dein Eigentum werden zu können. Reut dich aber diese Tat, gib her, was du gekauft hast und du sollst zu spüren bekommen, daß das Geld, welches du dafür aufwandtest, verloren ist. Denn du wolltest mit Kot das Ewige von dem erkaufen, der dich aus Lehm gebildet hat. Doch bleibst du bei diesem Kauf, erhältst du keinen Anteil am Licht in der Gemeinschaft der Engel im Himmel. Du hast nämlich durch die Rede deiner Zunge die Raubgier deines Herzens zum Ausdruck gebracht (protulisti) und etwas anderes begehrt, als wonach die Bürger der ewigen Herrlichkeit verlangen. Daher ist auch dein Herz in dieser Verkehrtheit ungerecht vor Gott, da du durch Bestechung haben willst, was ein freies Geschenk Gottes ist. Deshalb werden die Hintansetzer dieses göttlichen Vertrages, weil sie durch das freie Geschenk des Heiligen Geistes danach verlangen sollten und es nicht tun, nach gerechtem Urteil von mir mit eitlen Götzenbildern verglichen; denn wie diese ein Machwerk sind und ohne Beziehung zur Wahrheit stehen, aber dennoch von den Ungläubigen als Gott verehrt werden, so werden auch sie durch die Zweckwidrigkeit dieser ruchlosen Geschenke (foetentium munerum), in Ermanglung der Erleuchtung des Heiligen Geistes täuschende Lehrer; nicht erwählt und ohne Aufseufzen ihrer Seele, als ob sie des Amtes unwürdig seien, sondern in leidenschaftlichem Hochmut empfangen sie es von Menschen und beachten dabei nicht meinen Willen. Deshalb weiß ich nicht, woher sie kommen, weil sie mir gleichsam fremd sind. Denn wegen ihrer Ungerechtigkeit sind sie - wenn sie so bleiben - von mir verworfen. Tun sie aber aus ganzem Herzen Buße, nehme ich sie auf und mache sie zur Freude der Engel.

   

   22. Die Würde des Leitungsamtes ist gut und zum Nutzen der Menschen von Gott angeordnet, damit sie durch sie lernen, Gott zu fürchten; wer ihr Widerstand leistet, widersteht Gott
   

   Doch obgleich die ungerecht handeln, welche diese Würden in verkehrter Leidenschaft ersehnen, und man denen nicht zustimmen darf, die danach trachten, sich ihrer in ihrer Schlechtigkeit zu bemächtigen, wie schon gesagt wurde, sind diese Obrigkeiten dennoch gut und zum Nutzen der Menschen recht von Gott eingerichtet. Man darf ihnen nicht stolz und hartnäckig widerstehen, sondern muß vielmehr aus Liebe zu mir Gehorsam leisten. Deshalb darf sich kein Gläubiger, der Gott angemessen gehorchen will, dem ihm vorstehenden Meister (magisterio) widersetzen. Denn er beansprucht (imitatur) die Ehre Gottes, dessen Schafe er bewacht und weidet, damit die Hochachtung dieser Schafe nicht an einen anderen, der ein Dieb und Räuber ist, verschwendet werde. Wie nämlich niemand Gott Widerstand leisten darf, so darf sich niemand unklug seinem Vorgesetzten widersetzen.

   

   Also muß jeder lebendige Mensch mit (vivens in) Seele und Leib unterwürfig den höher als er selbst stehenden Würdenträgern gehorchen, mögen sie nun leibliche oder geistliche Rechtsbelange vertreten (retineant), damit aus Furcht vor ihrem Vorsteheramt das für die Menschen aufgestellte Gesetz verbessert wird und sie nicht in zuchtlose Willkür (libertate voluntatis suae) abweichen, ein Gesetz für sich aufstellen wie sie es wünschen, und so auf dem Weg des Herrn herumirren. Denn damit sie nicht irren, stammt diese Macht von Gott. Wieso?

   

   Die Regierung der Menschen ist auf die Eingebung des Heiligen Geistes so geordnet, daß die Menschen dadurch die Gottesfurcht erlernen. Wenn sie sie nach ihren Gelüsten ins Gegenteil verkehren, so liegt es dennoch nicht so im Willen Gottes, sondern an seiner geheimen Zulassung, damit nach gerechtem Urteil ihre Begierde in verkehrter Leidenschaft zu ihrem Schaden Erfüllung finde. Also sind die Machtbefugnisse von Gott zum Nutzen der Menschen verliehen (inspiratae) und wegen ihrer großen Bedrängnis von ihm gerecht geordnet, damit das Volk Gottes nicht nach Art des Viehs ohne Leitung lebt und auf den Abweg jeglicher Unbeständigkeit gerät (incederet). Wer ihnen daher Widerstand leistet und auf Antrieb seines Stolzes nicht in demütiger Unterwerfung gehorchen will, wie es recht ist, widerspricht nicht Menschen, sondern mir dem Schöpfer, der ich alles gerecht ordne. Er gibt sich hartnäckig - wie in der Übertretung Adams - der Empörung preis und zieht sich dafür die Finsternis der Verdammnis zu (sibi accumulans), wie auch jener aus der Freude in die Qualen verstoßen wurde. Nicht so der, welcher im Eifer für mich der verkehrten Schlechtigkeit der Menschen nicht demütig beipflichtet (consentit) - denn dieser mehrt eher die richtige Gerechtigkeit (iustitiam iustitiae) Gottes, als daß er sie mindert, wenn er das entsprechend und geschickt tut - sondern wer diese Würden durch hochmütigen Stolz ungeziemend unterdrücken möchte. Denn sie sind - wie schon gesagt wurde - auf meine Anordnung zum Nutzen der Lebenden öffentlich eingesetzt. Und wer stolz gegen sie ausschlägt, widerstrebt meiner Eingebung; obzwar manche in wahnsinniger Unwissenheit - ohne auf die Furcht vor mir zu achten - in der Bosheit ihres Wollens das göttliche Gebot übertreten und sich in diese Würden eindrängen. Das lasse ich nach gerechtm Urteil geschehen, wie sie es ersehnen; sie werden sich in einer sehr gerechten Prüfung durch schwere Buße oder das Feuer der Hölle verantworten müssen. 

   

   23. Von den bußfertigen Simonisten und den unbußfertigen
   

   Daß du aber siehst, wie einige von ihnen von dieser Torheit ablassen und rein werden, während andere in dieser Bosheit und in ihrem Schmutz verharren, bedeutet: Einige von ihnen kommen auf göttliche Eingebung aus ihrer Verkehrtheit wieder zu Verstand und verdienen, durch aufrichtige und wahre Buße gereinigt und gerettet zu werden, während die andern verhärtet und unbußfertig im Schmutz ihrer Verschlagenheit bis zum Ende ihres Lebens verharren und so erstickt, elend und grausam im Sterben eines harten Todes erlöschen (in morte dirae mortis morientibus).

   

   24. Gott gab der neuen Braut zur Verteidigung und zum Schmuck die Gaben des Heiligen Geistes
   

   Daß du jedoch innerhalb dieses Gebäudes gegenüber dem Turm auch etwas wie sieben weißen Marmorsäulen stehen siehst und sie wunderbar rund gedrechselt sind, heißt: Im Bauwerk des allmächtigen Vaters hat der Heilige Geist zum Schutz und zur Zierde der neuen Braut sieben schneeweiße Schutzvorrichtungen für sein Wehen, welche alle feindlichen Stürme mit ihrer Kraft abhalten, bestimmt. Er offenbarte, daß die höchste Macht weder Anfang noch Ende am Rad (in rotunditate) der Ewigkeit besitzt. Sie sind sieben Ellen hoch, denn diese alle Kraft und Erhabenheit der ganzen menschlichen Einsicht übertreffenden Gaben deuten an, daß der, welcher alles geschaffen hat, in allerreinstem Glauben zu verehren ist.

   

   Sie tragen auf ihrer Spitze eine eiserne runde Galerie, die anmutig ein wenig oben darüber hinausragt; denn sie bezeichnen in ihrer erhabenen Herrlichkeit die feine und ungreifbare Macht der Gottheit, welche jene in ihrer auserlesenen himmlischen Aufrichtigkeit schützt und erhält, die sich hienieden mit Hilfe der Gaben des Heiligen Geistes von fleischlichen Lüsten getrennt haben.

   

   25. Von der Weisheit, ihrem Standort und Gewand und was es bezeichnet
   

   Daß du aber am obersten Ende dieser Galerie eine überaus schöne Gestalt stehen siehst, bedeutet: Diese Tugendkraft war vor aller Schöpfung im höchsten Vater; nach seinem Ratschluß gab sie allen Geschöpfen ihre Ordnung (ordinans instrumenta creaturarum), die im Himmel und auf Erden erschaffen sind. Sie selbst erstrahlt nämlich als herrlicher Schmuck in Gott und ist die breiteste aller Sprossen der Tugendleiter in ihm, und mit ihm in ganz liebreicher Umarmung vereint beim Siegesreigen der brennden dreifaltigen Liebe (ardentis amoris tripudio). Sie blickt auf die Menschen in der Welt, denn sie leitet und bewacht unter ihrem Schutz die, welche ihr folgen wollen, und liebt sie sehr, weil sie mit ihr übereinstimmen. Denn diese Gestalt bezeichnet die Weisheit Gottes, weil durch sie alles von Gott geschaffen und regiert wird. Ihr Haupt strahlt einen so starken Glanz aus wie ein Blitz, daß du es nicht vollständig betrachten kannst. Denn die Gottheit ist für jedes Geschöpf furchterregend und anziehend. Sie sieht und betrachtet alles, wie das menschliche Auge unterscheidet, was ihm vorgelegt wurde; dennoch vermag kein Mensch, sie bezüglich ihrer Geheimnistiefe an ein Ende zu führen.

   

   Daher hat sie auch die Hände ehrerbietig über der Brust gefaltet. Das ist die Macht der Weisheit, die sie klug an sich fesselt, so daß sie jedes ihrer Werke in solcher Weise lenkt, daß niemand ihr bei irgendetwas, weder mit Klugheit noch mit Gewalt widerstehen kann, während ihre Füße hinter der Galerie für deinen Blick verborgen bleiben. Denn ihr im Herzen des Vaters verborgener Weg zeigt sich keinem Menschen; vor Gott allein liegen ihre Geheimnisse bloß und offen. Daß sie aber auf dem Haupt einen kronenförmigen, von hellem Schein strahlenden Reif trägt, heißt: Die Majestät Gottes ohne (carens) Anfang und Ende glänzt in unvergleichlicher Würde. Die Gottheit strahlt von solch göttlicher Schönheit, daß die Sehkraft des menschlichen Geistes von ihr geblendet wird. Daß sie aber mit einer goldfarbenen Tunika angetan ist, bedeutet: Das Werk der Weisheit erblickt man häufig wie aus purstem Gold. Daher läuft von der Brust bis zu den Füßen herab ein Streifen. Er ist mit dem Schmuck von kostbarsten Edelsteinen, nämlich von grüner, weißer, roter und himmelblauer, von Purpurglanz schimmernder Farbe geziert. Denn vom Beginn der Welt erstreckte sich schon - sobald die Weisheit ihr Werk offen in Erscheinung treten ließ - ein mit heiligen und rechten Geboten geschmückter Weg bis zum Ende der Zeiten, nämlich zuerst angelegt im grünenden Sproß der Patriarchen und Propheten, die aus der Not und den Seufzern der Mühsal heraus mit größtem Verlangen die Menschwerdung des Gottessohnes herbeiflehten, und dann geschmückt mit der blütenweißen (candidissima) Jungfräulichkeit in der Jungfrau Maria; danach mit dem festen, rotfarbenem Glauben der Märtyrer und schließlich mit der purpurleuchtenden Liebe der Beschaulichkeit, in der Gott und der Nächste in der Glut des Heiligen Geistes geliebt werden sollen. So schreidet sie bis zum Ende der Welt voran; ihre Ermahnung hört nicht auf, sondern ergießt sich, solange die Welt dauert. So zeigt es auch diese Tugend in ihrer Mahnung auf, wie schon gesagt wurde.

   

   26. Vom Standort der Gerechtigkeit, der Stärke und der Heiligkeit und was er bezeichnet
   

   Daß du aber auf dem Pflaster dieses Gebäudes drei weitere Gestalten siehst, bedeutet: Diese drei Tugendkräfte, die das Irdische mit Füßen treten und beim Bauwerk Gottes sich an das Himmlische halten, bezeichnen die drei Werkzeuge, durch welche die Kirche in ihren Kindern das Ewige erstrebt: nämlich die Speise der Lehrer, den Kampf der Gläubigen gegen den Teufel und ihre Abkehr vom Einverständnis mit den Laster. Die eine von ihnen lehnt sich an die erwähnten Säulen an; denn die von den Gaben des Heiligen Geistes erfüllten Kirchenlehrer finden Ruhe und Stärke. Und die beiden andern stehen nebeneinander vor ihr. Die Gottes- und Nächstenliebe ist nämlich auf ihre Ermahnung in ihrem vereinten und gemeinschaftlichen Wirken enthalten.

   

   Deshalb wenden sich alle der Säule der Menschheit des Erlösers und dem besagten Turm zu. Denn mit gleicher Einmütigkeit zeigen sie an, daß der Sohn Gottes als wahrer Gott und wahrer Mensch ganz getreu in der Kirche verehrt und angebetet wird, indem sie so die Gerechtigkeit durch Gerechtigkeit erhöhen; sie deuten nämlich in den alten Heiligen den höchsten Gott und in der Fleischwerdung seines Sohnes die Erlösung der Seelen an.

   

   27. Insebesondere von der Gerechtigkeit und ihrem Gewand und was es bezeichnet
   

   Diese Gestalt aber, die sich an die Säulen anlehnt, versinnbildet die Gerechtigkeit Gottes, denn sie bringt nach der Weisheit durch den Heiligen Geist in den Menschen mit all ihrem echten Tun alles ins rechte Lot (temperatur). Sie erscheint so umfangreich, daß fünf Menschen zusammen ihre Breite ergeben könnten. Das bedeutet die Spanne der fünf Sinne in der menschlichen Fassungskraft, mit denen sie sich in der Weite des göttlichen Gesetzes bewegt und für die, welche sie lieben, die von Gott aufgestellten Gebote des Lebens enthält und bewahrt. Sie ist jedoch riesengroß, daß du ihre Höhe nicht ganz zu ermessen vermagst; sie schaut nämlich über dieses ganze Gebäude hinweg. Denn in ihrer Erhabenheit übertrifft sie die menschliche Einsicht und strebt nach oben zum Himmlischen. So blickte sie auch bei der Fleischwerdung des Erlösers vom Himmel hernieder, als der Erlöser, nämlich der Gottessohn, aus dem Vater hervorging, der die wahre Gerechtigkeit darstellt. Daher richtet sie auch ihren Blick auf alle Werkzeuge der Kirche, denn von ihr werden sie hergestellt und umgriffen, wie die höheren Schutzwehren mit dem starken Turm, durch den sie Bestand gewinnen, verbunden sind. Deswegen hat sie auch einen großen Kopf und helle Augen und blickt scharf zum Himmel empor. Denn die größte und höchste Güte der Gerechtigkeit offenbarte sich den Menschen im fleischgewordenen Gottessohn als strahlende Erscheinung, als er sich den irdischen und beschatteten Augen in einem menschlichen Leib zeigte durch die Erlösung der Seelen auf das Himmlische blickte. Und sie ist ganz strahlend weiß und durchsichtig wie eine heitere Wolke. Denn sie wohnt im Glanz und in der Reinheit der gerechten Menschenherzen, die all ihren Eifer darauf richten, der Gerechtigkeit Gottes aufs Treueste ergeben zu sein. So ahmt sie auch die Wolken nach, weil sie sich in den Herzen der Gerechten eine angenehme Wohnstatt bereitet.

   

   Daß du aber sonst nichts Menschenförmiges an ihr erblickst, bedeutet: Wie dir kundgetan wurde, bleibt sie himmlisch und nicht irdisch, d. h. es sind mit ihr keine rein irdische Taten verbunden, mit denen es sich jene Menschen schwer machen, sondern solche, die sie zur Rechtfertigung des Lebens führen; denn Gott ist gerecht, wie auch sie - im Gegensatz zum Teufel - die übrigen Tugendkräfte beim Bauwerk Gottes ermuntert und es oben getreu andeutet.

   

   28. Insbesondere von der Stärke, ihrem Gewand und was es bezeichnet
   

   Die erste der beiden, die vor dieser Gestalt nebeneinander stehen, zeigt die Stärke an. Denn nach der Gerechtigkeit Gottes erhebt sich wie ein Fürst vor dem Angesicht des höchsten Königs die Stärke. Sie bekämpft in den Menschen mit rechter und heiliger Tat alle Nachstellungen der Feinde; sie erscheint nämlich mit der Kraft des allmächtigen Gottes bewaffnet. Denn sie widersteht glaubensstark dem Angriff des Teufels (diabolicae obiectioni). Daher trägt sie auch einen Helm, d.h. himmlische Lebenskraft zum Heil der Gläubigen, und ein Schild, das ist das christliche Gesetz, welches durch die in ihm enthaltene Gerechtigkeit von keinem Pfeil der teuflischen List vernichtet wird; und Beinschienen, nämlich die gewöhnlichen rechten Wege unter der Lehre der ursprünglichen Meister; und Eisenhandschuhe, das sind die starken und wirksamen Werke, welche die Gläubigen in Christus vollbringen.

   In der rechten hält sie ein entblößtes Schwert,  d.h. im guten Werk offenbart sie die unverhohlene (nudam) und offene Ermahnung, welche der Gottessohn in der göttlichen Heiligen Schrift in mystischer Bedeutung darlegte, als er die innere Süßigkeit des Kerns in der Enthüllung des Gesetzes aufzeigte. In der Linken hat sie aber eine Lanze. Denn sie deutet an, daß sie in den gläubigen Menschen - wenn sie in fleischlichen Begierden durch die Lust des Fleisches angefeindet werden - auch bei dieser Tat das Vertrauen auf die ewigen (Güter) besitzt.

   

   Daß sie aber unter ihren Füßen einen schrecklichen Drachen zertritt, heißt: Auf dem Weg der Aufrichtigkeit unterwirft sie den alten furchtbaren Drachen ihrer Gewalt und durchbohrt seinen Rachen mit dem Eisen der Lanze, so daß er unreinen Schaum ausspeit. Denn den Rachen der so schmutzigen und teuflischen Begierden durchbohrt sie in der scharfen Kühnheit der Keuschheit und entzieht ihm den Geifer der brennenden Begierde, mit dem er die Menschen befleckt hat.

   

   Daher schwingt sie auch das Schwert, welches sie hält, wie zum tapferen Dreinschlagen. Denn Gott hat sein scharfes Wort in vermehrter Kraft zum Ertöten aller Ungläubigkeit im Götzendienst und anderen Spaltungen, die zum Unglauben gehören, kundgetan, wie es auch die Tugend in ihrer oben angeführten Mahnung deutlich zeigt.

   

   29. Insbesondere von der Heiligkeit, ihrem Gewand und was es bezeichnet
   

   Die andere Gestalt aber bezeichnet die Heiligkeit. Denn während man durch die Stärke dem Teufel widersteht, geht in den guten Menschen die Heiligkeit zum Schmuck der himmlischen Streitschar auf; sie hat drei Häupter. Denn durch diese dreifache Würde gelangt sie zu ihrem Rang, so daß ein Kopf am gewöhnlichen Ort und auf jeder Schulter einer erscheint. Denn bei gerechtem und gottgemäßem (digna) Tun ist Gott als die Ursache aller wahren Freude (exsultationis), und im Glück wie auch im Unglück, über das sich ein Mensch freuen oder betrüben kann, zu fürchten und zu verehren. Der mittlere ragt jedoch ein wenig über die andern beiden hinaus. Denn jener, der Richter über die Guten und Bösen ist, überragt alles mit seiner Gerechtigkeit (aequitate). Daß aber dieser mittlere und der zu seiner Rechten von so großem Glanz strahlt, daß ihre Herrlichkeit deine Augen blendet, und du so nicht ganz genau sehen kannst, ob er ein männliches oder ein weibliches Aussehen hat, heißt: Die Heiligkeit steht auf dem Gipfel der Ehre und auf der Seite des Glückes ewiger Wonne von so großem Glanz der göttlichen Gnade erfüllt da, daß die Tiefe ihres Geheimnisses die Einsicht der Menschen übersteigt. So kann man weder der Last der Sterblichkeit weder ihre Freiheit noch ihre Unterwürfigkeit in Christus erblicken, nur, daß sie in ihm lebt.

   

   Der links erscheinende Kopf ist dagegen von einem verbergenden weißen Schleier verhüllt, wie ihn Frauen gewöhnlich tragen. Diese Vollkommenheit nämlich, die sich aus Liebe zu Gott in jeder Widerwärtigkeit tapfer in Zucht nimmt - sie wird mit teuflischer Feindseligkeit und menschlichem Tun bekämpft - ängstigt und sorgt sich gleichsam, wie sie sich mit göttlichem Beistand verteidigen soll und empfiehlt sich in ganz demütiger Unterwerfung in der lichten Schönheit des christlichen Kampfes mit den Seufzern der gläubigen Herzen ihrem höchsten Erlöser.

   

   Das aber diese Gestalt mit einer Tunika aus weißer Seide angetan ist,  bedeutet: Sie erscheint mit dem Werk des strahlenden und gewinnenden Eifers, in dem die vollkommene Heiligkeit meinen Sohn nachahmt, bekleidet, und auch mit schneeweißen Schuhen ausgerüstet. Denn durch den Tod Christi erstrahlt sie im Schimmer der Wiedergeburt aus Geist und Wasser in den Herzen der Menschen, damit auch sie seinen Tod nachahmen.

   

   Und auf ihrer Brust trägt sie das Zeichen des Kreuzes; auch ein heller rötlicher Schein, der auf der Brust wie Morgenrot erstrahlt, umgab es schimmernd. Sie ruft nämlich immer wieder in den aufmerksamen Herzen der Gläubigen, die sie eifrig lieben, die Erinnerung an das Leiden Christi Jesu wach. Auch deutet sie überall im heitersten Licht des Glaubens in diesen Herzen an, daß jener, der im Gehorsam gegen den Vater in seiner heiligen Menschheit derart gelitten hat, nach dem Willen des Vaters in der ganz schönen Morgenröte der Sonne, welche die Jungfrau Maria ist, ohne Sündenmakel geboren, gekommen war. Daß sie  jedoch in der Rechten ein entblößtes Schwert hält, das sie sehr andächtig an ihre Brust und das Kreuz drückt, bedeutet: Sie zeigt in einer guten und heiligen Geste, wie sie die Erinnerung an die Heilige Schrift, die durch den Heiligen Geist offenbart wurde, in den Herzen der Erwählten liebt, durch die auch sie liebreich des Leidens ihres Erlösers gedenken.

   

   Daher siehst du auch an der Stirn des mittleren Hauptes geschrieben: 'Heiligkeit'. Denn man erkennt die Heiligkeit am inneren Antlitz, d. h. an der Seele, die sich ohne eine ungeziemende Scham am Leben freut; und an der Stirn des rechten: 'Wurzel des Guten'.  Sie ist nämlich der sichtbare Beginn und das Fundament bei der Erlösung zur Heiligkeit; und an der Stirn des linken: 'Ohne sich zu schonen', weil sie, ohne zu erlahmen, die Verweichlichung und Nichtigkeit der fleischlichen Begierden von sich wirft, sich immer zuchtvoll zügelt und sich die Ausstattung mit den übrigen Tugendkräften aneignet, um vollendet werden zu können, und nach Beharrlichkeit strebt. Und das mittlere blickt auf die beiden andern und diese zu ihm, und so leisten sie sich gegenseitig einen guten Dienst (utilitatem conferunt). Sie bleiben nämlich gemeinsam stark in der Eintracht des inneren Schauens und der Liebe, so daß keines von ihnen ohne die Hilfe des anderen zu bestehen vermag. Ihre Worte und Ermahnungen zielen - wie schon gesagt - auf den Fortschritt der Menschen.

   

   Wer aber scharfe Ohren zum inneren Verständnis besitzt, der lechze in leidenschaftlicher Liebe zu meinem Abbild nach diesen meinen Worten und schreibe sie ins Gewissen der Seele ein.

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