- Gottes enge Pforte -

Das geistige Leben im Jenseits





Sobald der Geist seine leibliche Hülle abgelegt hat, wird sein Blick frei und klar und das Bewusstsein seines vergangenen Lebens ein unmittelbares und umfassendes.
Nach seiner rein natürlichen Seite schliesst der jenseitige Zustand allerdings auch eine Steigerung der Erkenntnis in sich, nach seiner gnaden- und glorreichen Seite aber bedeutet er unendlich mehr. Gewiss steht das himmlische Leben in einem inneren und notwendigen Zusammenhange mit dem diesseitigen, aber es ist nicht bloß dem Grade, sondern auch der Art nach von ihm verschieden.
Wenn schon jenes neue Licht, das Gott keiner abgeschiedenen Menschenseele versagt, diese zu einer vollkommeneren Erkenntnis befähigt: mit welcher Fülle von Wahrheit und Klarheit wird erst das himmlische Licht den Geist des Gerechten überfluten! Erleuchtet und gestärkt durch das wunderbare Verklärungslicht schaut er den unerschaffenen, unendlichen Geist "von Angesicht zu Angesicht", "wie er ist", in seiner unergründlichen Wesenheit und in seiner unbegreiflichen Schönheit, Herrlichkeit und Seligkeit.
Alle Gotteserkenntnis hienieden, auch die der grössten Gottesgelehrten, ist eine höchst dürftige und dunkle. Sie ist nämlich nicht eine anschauende oder unmittelbare, erfasst Gott nicht in seinem Wesen, sondern nur in seinen Werken. Zwar ist uns Gott immer und überall gegenwärtig; wir fühlen seine Nähe, sehen seine Fussstapfen und hören seine Stimme, aber ihn selbst sehen wir nicht. In ihm leben wir, bewegen uns und sind wir, er wohnt unter uns und in uns, aber sein Antlitz verbirgt er vor uns. Wir erkennen ihn zwar im Bilde, besitzen aber ein klares Bild von ihm nicht. Die Bezeichnung "Anschauung Gottes" ist ebenfalls nur ein Bild, durch das wir uns zu veranschaulichen suchen, was wir uns nicht vorstellen können. Dieses ist entlehnt von der vollkommensten Art und Sinneswahrnehmung, nämlich von dem Schauen der Körperwelt durch das leibliche Auge. Das beseligende Schauen Gottes aber ist ein unvergleichlich vollkommeneres. Es geschieht ja nicht durch das leibliche Auge, das auch im verklärten Zustande dazu nicht fähig ist, sondern durch die Seele, die unmittelbar den höchsten Gegenstand ihrer Erkenntnis dadurch wahrnimmt, dass sie aufs innigste mit ihm vereinigt wird. Von den unbeschreiblich hellen Strahlen der ewigen Sonne durchleuchtet, eingetaucht in den unermesslichen Ozean des persönlichen göttlichen Lichtes, empfängt der Selige eine Gotteswissenschaft, die durch kein Dunkel mehr getrübt, durch keine Lücke mehr gestört, durch keine Schwierigkeit mehr in Verlegenheit gesetzt wird.
Das leibliche Auge erblickt die Sonne im Scheine ihres eigenen Lichtes. Schaut es aber der Königin der Gestirne gerade ins Antlitz, wenn sie von der Mittagshöhe herab in der Fülle ihres Glanzes erstrahlt, so sieht es alsbald vor lauter Licht nichts anderes mehr als dieses machtvolle Lichtfeuer, und schließlich wird es so sehr geschwächt und geblendet, dass es gar nichts mehr sieht, sondern müde und wund sich schliesst. Eine solche schmerzliche und zerstörende Wirkung wird natürlich die ewige Sonne auf das geistige Auge nicht ausüben. Dieses vielmehr ist zuvor mit einer übernatürlichen Sehkraft, nämlich mit dem Verklärungslichte, ausgerüstet und gestärkt worden, damit es die unmittelbare Nähe des unermesslichen Lichtmeeres ertragen könne: "In Deinem Lichte schauen wir das Licht", das ist jenes Wesen, welches ganz Licht und Herrlichkeit ist.
Gott ist der Urgrund und das Urbild aller Dinge. Von Ewigkeit her ruht der Schöpfungs- und Erlösungsplan, die Weltgeschichte und das Weltgericht vollständig und klar in seinem unermesslichen Geiste. Indem nun die Seligen in den Abgrund des göttlichen Wesens hineinschauen, erblicken sie in ihm, je nach dem Grade ihrer Empfänglichkeit für die Einströmungen des ewigen Lichtes mit größerer oder geringerer Klarheit, die ganze Geister- und Körperwelt, deren Daseinsbedingungen und Wesenseigentümlichkeiten, den Grund und den Gang ihrer Entwicklung und Veränderung, die grossen Taten Gottes nach aussen, die Wunder der Natur und der Gnade, die Geschichte der Völker und des einzelnen viel deutlicher, als man etwa in der Seele des Künstlers dessen Kunstwerk zu lesen vermöchte. Gottes Auge ist gewissermaßen der Spiegel, der das ganze Weltall umfasst, in sich aufnimmt und von sich ausstrahlt, ohne von ihm ausgefüllt zu werden. In diesem Spiegel schauen die Seelen alles geschöpfliche Sein, Leben und Wirken; alles wird ihnen klar und offenbar.
Namentlich erkennt die gottschauende Seele die besonderen Veranstaltungen, Führungen und Fügungen, die von Ewigkeit zu ihrem Heile beschlossen und zur rechten Zeit ins Werk gesetzt worden, das Geheimnis der Auserwählung zur Gnade und Glorie, den steilen, oft verschlungenen Weg zur Beharrlichkeit bis ans Ende. Sie sieht hell und klar, wie der gütige Vater im Himmel sie von Anbeginn wie seinen Augapfel geliebt und gehegt, wie sein Vaterauge über ihr gewacht, seine Vaterhand über ihr gewaltet und das Dunkle zum lichtvollen Ausgange, das Rätselhafte zur glücklichen Lösung, das Leidvolle zur beseligenden Vollendung gebracht hat; wie der Erlöser sie gesucht, mit seinem Blute sie gereinigt, an seinem Herzen sie genährt und gepflegt; wie der Heilige Geist sich mit ihr vermählt und sie zur Stätte seiner Gnadenwirksamkeit auserwählt hat; wie Maria unter dem Kreuze in Schmerzen sie als Kind angenommen, so treu ihre Mutterpflichten gegen sie geübt, ohne Unterlass Gnaden ihr erbeten und ausgeteilt; wie der heilige Schutzengel sie gelehrt, gemahnt, gewarnt, aus Gefahren errettet, in Versuchung behütet, auf jedem Schritte und Tritte sie begleitet hat; wie die Heiligen im Himmel und die armen Seelen im Reinigungsort für sie gebetet; wie die heilige Kirche auf Erden für sie gelitten und gestritten hat.
Welch eine Erkenntnis und Wissenschaft! Was ist im Vergleiche zu ihr die Weisheit Salomons, durch welche die Königin von Saba in Erstaunen, was die Weisheit des heiligen Paulus, durch welche die Weltweisen in Schrecken gesetzt wurden!
Das Glück des einzelnen aber wird noch tausendfältig gesteigert durch den Anblick der Mitgenossen, besonders derer, die er im irdischen Leben gekannt, geehrt und geliebt hat. Er hat sie wiedergefunden in dem unermesslichen Meere von Licht und Wonne, in das er selbst versenkt ist. Es "beginnt ein höheres Wechselleben von Geistern mit Geistern; wie die Gedanken miteinander in unserem Geiste, so verkehren jene zusammen mit dem höheren Geist...Da wird es keiner Sprache mehr bedürfen, sich gegenseitig zu verstehen, und keines Auges, den anderen zu erkennen; sondern wie in uns der Gedanke den Gedanken versteht und auf ihn einwirkt, ohne Vermittlung von Ohr und Mund und Hand sich mit ihm verbindet, oder sich von ihm scheidet ohne fremdes Band und ohne Scheidenwand, so heimlich, innig und unvermittelt wird der Wechsel der Geister miteinander sein". Sie schauen einander und reden miteinander, indem sie einander andenken. Es findet ein gegenseitiges Durchschauen kristallheller Wesen statt, die ihre Persönlichkeit und Eigenart nach ihrem vollen Gehalt und Wert mit vollkommener Klarheit ausstrahlen. Drüben werden wir uns zum erstenmal wahrhaft kennen lernen; dort gibt es keine Verstellung, keine Verwechslung und keine Verborgenheit mehr. Auf Erden ist noch niemand von seinen Mitmenschen, nicht einmal von seinen nächsten und vertrautesten Umgebung recht erkannt worden. Im Himmel aber, beim Gott der Wahrheit, wohnen nur Kinder und Zeugen der Wahrheit; ein jeder wird auf den ersten Blick erkannt, wer und wie er ist, nach seinem Namen und Stande, nach seinen Taten und Verdiensten.
Welch ein Wiedererkennen der Ehegatten, der Eltern und der Kinder, der Geschwister, der Freunde, der Bekannten, der Lehrer und der Schüler, der Wohltäter und der Armen! Jeder mag für sich den köstlichen Gedanken auszudenken suchen, wie überselig die Erinnerung sein müsse an die gemeinsam überstandenen Gefahren, Versuchungen und Kämpfe, an die gemeinschaftlich ertragenen Arbeiten, Mühen und Leiden, an die wechselseitigen Dienstleistungen, Unterweisungen und Tröstungen, an die guten Beispiele und die frommen Fürbitten, durch die der eine den anderen auf dem Wege des Heils gefördert hat. "O Gott!" ruft der heilige Franz von Sales aus, "welcher Trost wird uns in diesen himmlischen Gesprächen, die wir miteinander Führen, zuteil! Welche Freude, grösser, als wir sie denken können, werden wir empfinden, wenn unsere guten Engel uns sagen, wie sie während des Laufes unseres sterblichen Lebens so ängstlich um unser Heil Sorge trugen, wenn sie uns an die frommen Eingebungen erinnern, die sie uns brachten; wenn wir begreifen, wie sie unser Sehnen nach der göttlichen Gnade weckten, in deren Besitz wir jetzt selig sind! Gedenkest du nicht, so werden sie uns zurufen, welche Gedanken ich in deiner Brust weckte damals, als du dieses Buch lasest, oder als du jenes Gemälde betrachtetest, Gedanken, die schließlich dahin führten, dass du dich zu Gott dem Herrn bekehrtest?"
"Führwahr! wir werden einander nicht bloß wiedererkennen, sondern wir werden einander weit besser erkennen, als es hier auf Erden möglich gewesen. Wir werden wechselseitig in unseren Herzen alles lesen, was wir hienieden voreinander geheimgehalten haben; denn droben gibt es keine Geheimnisse mehr. Und was für süße und wunderbare Offenbarungen harren dort unser! Wir werden ungezählte Werke entdecken, die vielen Seelen zum Himmel verholfen haben, ohne dass man auf Erden ihnen Betrachtung geschenkt hat. Wir werden erfahren, wie manchen Fehltritt, den zu begehen wir im Begriffe standen und doch unterließen, wie manche Tugendübung, der wir uns aus Mangel an Starkmut entziehen wollten und gleichwohl unterzogen, wir dem Gebete irgend einer Seele zu verdanken haben, die uns liebte, für uns flehte und litt. Wir erwiesen einem armen Freunde einen kleinen Dienst, wir drückten an einem kalten Wintertag einem Bettler ein Almosen in die Hand, und sie lohnten uns dafür mit einem Segensspruch, den wir vielleicht nicht einmal hörten oder kaum beachteten, und der doch wie ein Pfeil zum Himmel empordrang und Grosses uns erwirkte. Erst wenn wir dorthin gelangen, werden wir sehen, welche Macht diesem Segen innewohnte, welchen übernatürlichen Gewinn er uns gebracht hat. Wie groß wird alsdann unser Staunen sein! Das wird ein Wiedererkennen sein, unvergleichlich wonnereicher als das freudige Wiedersehen auf Erden zwischen einer Mutter und ihrem lange verloren geglaubten Kinde. Alsdann werden unsterbliche Verbindungen geschlossen, Bande einer ewigen Liebe unter den Rettern und den Geretteten geknüpft werden." Die zusammen in Tränen säeten, ernten nun auch zusammen in Frohlocken: "sie gingen hin und weinten beim Streuen ihres Samens, aber sie werden kommen, ja kommen mit Frohlocken und tragen ihre Garben." Die zusammen gearbeitet und gekämpft und gesiegt haben, werden nun auch zusammen belohnt, verherrlicht und gekrönt. Mit jubelnder Dankbarkeit singen sie immerdar das heilige Glückwunschlied: "Wir frohlocken und freuen uns allzeit; wir freuen uns der Tage, da du uns niedergebeugt hast, der Jahre, da wir Unglück sahen." Im irdischen Zusammenleben war so manches dunkel, unklar und rätselhaft geblieben; jetzt ist alles licht und hell.
Zwar ist es ein fremdes und wenig bekanntes Land, in das die vom Leibe scheidende Seele hinübergeht. Aber sie wird dort gleich im ersten Augenblicke über alle Verhöltnisse aufgeklärt und findet eine grosse Schar von Bekannten, die jubelnd die Hände ihr entgegenstrecken. Darf sie eintreten in den himmlischen Hochzeitssaal, so werden alle, die in das Buch des Lebens eingetragen sind, ihre lieben Freunde; und die Bande früherer Freundschaft werden neu befestigt für immer. Unter Jubelgesängen wird sie empfangen von jener Menge, "die niemand zählen kann". Nun steht sie am Throne Gottes, geschmückt mit der eigens für sie bereiteten Krone. Der Heilige Geist führt sie dem Bräutigame Christus in die Arme, und der, der eingeborene Sohn des Hauses, geleitet sie zum Herrn und Gastgeber des Hauses, zu seinem himmlischen Vater; er beginnt die Feier des ewigen Liebesbundes mit dem dreieinigen Gott und mit allen seinen Engeln und Heiligen. 
 
Bereite dich hier auf Erden dazu vor, durch ein tugendhaftes und heiliges Leben!
 

(entnommen aus "Das dreifache Reich Gottes" von Pfarrer Joseph Reiter, 1911)

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