Vom Patriarchen Noe und der Sintflut

Fragen wir nach den weiteren Schicksalen der Nachkommen Adams, so berichtet uns die heilige Schrift, dass auch die "Kinder Gottes", d.h. die Nachkommen des Seth, im Lauf der Jahrhunderte immer mehr von Gott sich wegwandten, und mit den "Kindern der Welt", den Nachkommen Kains, sich verbanden, so dass allmälig das ganze Menschengeschlecht in die gräulichste Entartung versank. Ihr Sinnen und Trachten war nur mehr auf die irdischen Genüsse gerichtet; "sie aßen und tranken", sagt Jesus selber von ihnen, "und nahmen und gaben Weiber zur Ehe." - In kurzer Zeit füllte sich die Erde mit Menschen an; es wurden Städte, Dörfer und Flecken erbaut und allerhand köstliche Früchte gepflanzt. Viele Kenntnisse und künstlerische Fertigkeiten hatte sich dies Geschlecht erworben; daneben aber trieben sie jegliches Laster, selbst die widernatürlichsten Gräuel. Deshalb sprach Gott: "Noch 120 Jahre, und Ich will die Menschen von der Erde vertilgen."
Mitten unter diesem gottlosen Geschlechte aber lebte noch ein gerechter und vollkommener Mann; dies war der Patriarch Noe. Mit tiefer Wehmut sah er das Verderbnis seiner Mitmenschen, unter Tränen flehte er für sie zum Allerhöchsten, und er selbst mahnte, predigte, warnte und drohte. Allein vergebens. Da sprach der Herr zu ihm: "Das Ende alles Fleisches ist gekommen; mache dir eine Arche von gezimmertem Holze, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch; denn sieh, Ich will eine Wasserflut über die Erde bringen, und alles Fleisch töten, in welchem Odem des Lebens ist auf Erden. Mit dir aber will Ich meinen Bund aufrichten!"
Erkenne hierin, die treue Sorgfalt des himmlischen Vaters für die Seinigen. Auch wenn die ganze Welt zugrunde geht, wacht sein Vaterauge über den Gerechten; und wär er mit Daniel in der Löwengrube, oder mit den drei Jünglingen im Feuerofen: Er weiss sie zu retten mit mächtiger Hand! Drum, wenn du auch rechts und links die Bosheit der Menschen siehst, und wenn selbst deine Freunde und Anverwandten mit Laster und Sünde sich beflecken und auf dem breiten Wege wandeln, der zum Verderben führt: o bleibe du auf dem schmalen Wege, unerschütterlich treu deinem Gotte; der Lohn entgeht dir gewiss nicht!
Als Noe den Bau der Arche begann, da sahen ihm die Leute verwundert zu, und sagten ihn spöttisch nach seinem Beginnen. Er aber, erfüllt vom Eifer Gottes, predigte ihnen neuerdings Buße und verkündigte ihnen das drohende Strafgericht. Da verlachten sie ihn und fuhren fort zu sündigen. - O bejammernswerter Zustand des Menschen, der in unbußfertiger Verstocktheit ausharret und heilsamer Ermahnung kein Gehör schenkt! "Wie vermeinst du denn - ruft der heilige Paulus einem solchen Verstockten zu - wie vermeinst du denn, dem Gerichte Gottes zu entfliehen? Verachtest du den Reichtum der Güte, Geduld und Langmut Gottes, und weisst du nicht, dass die Güte Gottes zur Buße dich ruft? Durch deine Verstocktheit aber und dein unbußfertiges Herz häufest du dir Zorn für den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der Jedem vergelten wird nach seinen Werken: denen, die ausharren im Guten, ewiges Leben; denen aber, die der Wahrheit widerspenstig sind, Zorn und Fluch." Röm. 2. - Daher ruft der Psalmist allen Sündern zu: "Heute, wenn ihr Gottes Stimme höret, o verhärtet eure Herzen nicht."
Nun betrachte aber auch das noch. Noe sollte hundert Jahre lang, vor aller Augen, an der Arche bauen: so hatte es der Herr gefügt, damit das Menschengeschlecht inzwischen noch immer Zeit zur Buße habe, und Alle erkennen, dass Gott zwar schnell zum Verzeihen, aber nur langsam zur Strafe sei. Anbetungswürdige Langmut unseres Gottes! Wie wahr sind die Worte des weisen Sirach: "Geduldig ist Gott mit den Menschen, und barmherzig wie ein Hirte gegen alle seine Geschöpfe. Er sieht wie vermessen und böse ihr Herz ist, und ihre Schalkhaftigkeit ist Ihm bekannt; dennoch bietet Er ihnen Verzeihung die Fülle, und zeiget ihnen den rechten Weg." Sir. 18. So erfüllte sich denn auch an den Gottlosen in den Tagen Noe´s das Wort des Predigers: "Mag auch der Sünder hundertmal Böses tun, so wird er mit Langmut ertragen."
Als nun nach hundert Jahren die Arche vollendet, und mit Allem, was für Menschen und Vieh notwendig ist, versehen war, da ging Noe auf göttlichen Befehl hinein mit seinem Weibe, seinen Söhnen und deren Frauen, sowie mit Tieren jeglicher ihm bekannten Gattung aus dem ganzen Lande, das überflutet werden sollte, und welche der Herr - durch die Allmacht seines Willens - ihm zuführte vor dem Ausbruche der Sindflut. Es war ums Jahr 1600 nach der Erschaffung der Welt, im 600sten Jahre des Lebens Noes. Seine verstockten Zeitgenossen aber waren heiter und guter Dinge, aßen und tranken, spielten und tanzten und spotteten in ihren Wollüsten des Noe und der Seinigen. Aber bald sollte ihre wilde Freude in bitteres Leid verwandelt werden. Der Himmel umwölkte sich; unter heftigem Erdbeben fing es an zu donnern und zu blitzen, zu stürmen, zu regnen und zu hageln. Dichte Finsternis umhüllte die Erde; es brachen auf alle Brunnen und Wasserkammern der Erde, und es öffneten sich die Schleussen des Himmels. Rasende Bäche und Ströme bildeten sich überall und wälzten Felsblöcke und entwurzelte, tausendjährige Bäume mit entsetzlichem Getöse dahin. Dazwischen durchzuckten schaurige Blitze die Finsternis und verkündete der rollende Donner den Zorn des Allerhöchsten. Die Wasser stiegen so schnell, dass niemand wusste, wohin entfliehen. Die Unglücklichen! In ihrer Verzweiflung stiegen sie auf die Dächer, auf die Bäume, auf Anhöhen und Hügel und Berge; jetzt hoben sie ihre Hände zum Himmel empor und flehten um Gnade. Ach, es war zu spät, und es ging der Ausspruch des heiligen Geistes in Erfüllung: "Darum weil Ich rief und ihr nicht wolltet, weil Ich meine Hand ausstreckte und keiner darauf achtete und ihr in den Wind schluget meine Strafreden, so will Ich zu eurem Untergange lachen. Ihr werdet Mich rufen, aber Ich werde nicht hören; ihr werdet Mich suchen aber nicht finden, weil ihr die Zucht gehasst und Spott gelegt auf meine Strafreden." Sprw. 1.
Schreckliches Vorbild des grossen Gerichtstages! Auch dann werden die Wolken des Himmels sich öffnen, und das Zeichen des Menschensohnes, das Kreuz, das jetzt von so vielen verachtete, es wird in schaurigem Glanze leuchten, und alle Völker werden verschmachten vor Furcht und Erwartung der Dinge, die da kommen sollen. Weh dir, weh dir, meine Seele, wenn du dann vor dem gerechten Richter nicht bestehen möchtest, und auch dir das Schreckenswort zugerufen würde: es ist zu spät! - O lass diesen Tag des Schreckens, wie Sankt Hieronymus getan, dir allzeit vor Augen schweben; dann wirst auch du, wie der gerechte Noe, aus dem allgemeinen Untergange gerettet, und durch alle Ewigkeit das Opfer deines frohlockenden Dankes dem Allerhöchsten darbringen!
Was nun aber diejenigen anbelangt, die in der Sintflut zu Grunde gingen, so dürfen wir glauben, dass nicht Alle für ewig verloren waren. Denn als die Strafgerichte hereinbrachen, da gingen Viele in sich, bereuten ihren Undank gegen den gütigen und langmütigen Gott und bekehrten sich. So musste ihnen die Trübsal des Fleisches zur Buße dienen; sie starben ausgesöhnt mit Gott und kamen in die Vorhölle, wo sie, wie alle Gerechten des Alten Bundes, bis zum Tode Christi warten mussten. Denn ausdrücklich sagt die heilige Schrift von Christus: "Er kam auch zu den Geistern, die im Kerker lagen, und predigte ihnen, denen welche einst ungläubig waren, als sie in den Tagen Noe´s sich auf Gottes Langmut verließen, da die Arche gebaut ward." 1. Petr. 3.
Vierzig Tage und vierzig Nächte lang hatte es geregnet, und das Wasser stieg 15 Ellen über die höchsten Berge, so dass Alles, was Odem hatte auf Erden, zu Grunde ging. Die Arche aber schwamm sicher und majestätisch über den Gewässern; und mochte auch der Regen stromweise auf sie herniederstürzen, und mochten die brausenden Wogen wild an sie hinaufschlagen: Noe und die Seinigen verspürten kein Ungemach.
Erkenne in dieser Arche ein Vorbild der heiligen Kirche! Christus ist der Steuermann, der Mastbaum ist das heilige Kreuz, die Segel schwellt der göttliche Geist und die Richtung bestimmt der himmlische Vater, wie der heilige Ambrosius lehrt. Wer immer als wahrer Christ in dieser Kirche sich befindet, wer immer in Verbindung steht mit diesem Steuermann, wer immer an diesem Steuerruder sich festhält, der wird nicht zu Grunde gehen. Mögen auch Verfolgungen und Drangsale aller Art über diese Kirche hereinbrechen: in ruhiger Majestät schwebt sie über den ungestümen Fluten dahin und rettet Alle, die sich ihr anvertrauen. Gib darum nicht zu, o Herr, dass ich jemals von dieser gnadenreichen Arche der Kirche mich trenne; und führe in deiner grossen Barmherzigkeit auch diejenigen herbei, die jetzt noch ausserhalb der Kirche sich befinden. Denn nicht nur acht Seelen, wie die Arche Noe´s, o nein, alle, die eines guten Willens sind, haben in dieser wahren Arche Platz und Unterkunft!
(entnommen aus: LEBEN JESU, von L.C.Businger 1873)